44. Linzer Konferenz: 1968 – Ein Blick auf die Protestbewegungen 40 Jahre danach aus globaler Perspektive

11.-14. September 2008, Linz

Konferenzbericht

Bericht von David Mayer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien)

Dass man ‘1968’ als grenzüberschreitendes und globales Phänomen in den Blick nehmen müsse, wurde im heurigen Jubiläumsjahr gleichermaßen oft als Konsens beschworen wie letztlich selten befolgt. Die OrganisatorInnen der 44. Linzer Tagung der ITH versuchten diese Lücke ein Stück weit zu schließen und luden dazu ein, bei den mit der Chiffre ‘1968’ verbundenen Prozessen, wie es in der Ankündigung hieß, “vor allem auf außereuropäische Erfahrungen [zu] fokussieren und einen Schwerpunkt auf transnational und transkontinental vergleichende Analysen [zu] legen.” Ein Dutzend Vortragende und an die 100 TeilnehmerInnen folgten dieser maßgeblich von Marcel van der Linden (IISG Amsterdam) und Angelika Ebbinghaus (Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen) gestalteten Einladung. Die Hoffnung, auf dieser Tagung ein umfassendes und bedeutungshierarchisch gewogenes Bild oder eine abschließende globalgeschichtliche Synthese von ‘1968’ zu erhalten, musste dabei erwartungsgemäß unerfüllt bleiben. Gleichwohl wurden die Möglichkeiten von Deutungen und Studien eindrucksvoll wie variantenreich demonstriert, die transnationale Netzwerke, grenzüberschreitende Transfers und wechselseitige Bezüge zwischen unterschiedlichen Akteuren an aparten Orten in den Mittelpunkt rücken. Bekräftigt blieb auch der prinzipielle Deutungspluralismus in Bezug auf ‘1968’, der bei transnational ausgerichteten Untersuchungen durchaus klarer hervortritt als in national gerahmten Deutungen.

Bereits in der Aufbereitung der Leitfragen durch Marcel van der Linden, Angelika Ebbinghaus und Berthold Unfried (Präsident der ITH, Wien) zeigten sich eine Reihe von unterschiedlichen Annäherungen an ‘1968’: Während noch Einigkeit darüber bestand, dass mit der Jahreszahl 1968 ein wesentlich breiterer Zeitkorridor angesprochen ist, wurden verschiedenste Periodisierungen der ‘langen 60er Jahre’ vorgelegt, je nachdem, welches Gewicht dem Anstieg sozialer Konflikte Anfang der 1970er Jahre (insbesondere in Westeuropa im betrieblichen Bereich) beigemessen wurde. Eng angebunden an diese Periodisierungsfrage war auch die jeweilige Wahl des prime movers von ‘1968’: Bildete das Doppel bzw. die mancherorts direkte Allianz von Studierenden und Arbeitern den dynamischen Kernprozess von ‘1968’ oder war es die jugendbewegte Neudefinition von Protest und Politik, die kulturelle, persönliche und politische Veränderung zu einem Anliegen verband? Niederschlag fanden diese unterschiedlichen Akzente in den wiederholten Diskussionen darüber, ob die Unterscheidung in ‘Neue’ und alte Linke weiterhin akkurat sei. In gleichem Maße offen musste die von OrganisatorInnen und Beitragenden unterschiedliche gemessene ‘Breite’ von ‘1968’ bleiben: Geht es bei ‘1968’ darum, die 68er-Bewegung zu untersuchen oder auch all jene Protest- und Mobilisierungsereignisse, die nicht zu dieser Bewegung im engeren Sinne zählten? Müssen auch jene gesellschaftlichen Prozesse Teil einer gewogenen Analyse sein, die – wie Michael Schneider (Friedrich Ebert-Stiftung, Bonn) wiederholt in den Diskussionen einforderte – nicht unter dem Paradigma der historischen Sozialbewegungsforschung gedeutet werden können, sondern Teil eines allgemeineren, mittelbaren und politisch gemäßigten gesellschaftlichen Politisierungs- und Linksrucks waren?

In der Nachbetrachtung können die Beiträge der Tagung vier Themenkreisen zugeordnet werden: Das Gewicht der ‘3. Welt’; grenzüberschreitende Interaktionen und Bezüge; Vieldeutigkeit von ‘Reform’ in Osteuropa sowie große Deutungen und Wirkungen von ‘1968’.

Der größte Teil der Welt – die Peripherie, die nicht europäischen Regionen, die ‘3. Welt’ – spielte in vielen Beiträgen eine zentrale Rolle. Einige Ausführungen und Diskussionen versuchten dabei, über eine bloß additive Hinzunahme weiterer, ‘exotischer’ Schauplätze von ‘1968’ hinauszugehen. So führte Christoph Kalter (Potsdam) in seinen Überlegungen aus, in welchem Maße sich in den Jahren zwischen 1956 und 1968 die ‘Dritte Welt’ und die ‘Radikale Linke’ wechselseitig konstituierten. Insbesondere anhand der Rezeptionsgeschichte von Frantz Fanons Die Verdammten dieser Erde lasse sich aufzeigen, wie Dekolonisierung und Neokolonialismus, ‘1956’ (Niederschlagung des Ungarnaufstandes; XX. Parteitag der KPdSU) und die Enttäuschung über die Mäßigungsbekenntnisse der Arbeiterbewegungsorganisationen zu einer Situation führten, in der die stolze Selbstermächtigung als Tiers Monde durch Akteure in der Peripherie und die Suche nach Referenzen von neuen radikalen Kräften in Europa zu einem Doppel führten, das ‘1968’ in hohem Maße bestimmte. David Mayer (Wien) versuchte in ähnlicher Weise nicht nur über ‘1968’ in Lateinamerika (Mexiko, Argentinien), sondern auch aus Lateinamerika zu sprechen, womit die Kubanische Revolution und ihre kontinentale, ja globale Wirkmacht, aber auch Phänomene wie die Befreiungstheologie gemeint seien. Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Wien) wiederum nahm einen ‘sino-zentrischen’ Blick auf ‘1968’ und erläuterte Deutungsmuster der chinesischen Staatselite, die in ‘1968’, der weit verbreiteten Bezugnahme auf die ‘Kulturrevolution’ sowie im Erfolg maoistischer Organisationen eine Wiederetablierung von Peking als ‘Zentrum der Welt’ sah. Diese Perspektiven spitzten sich in der Tagungsdiskussionen auf die Frage zu, ob ‘1968’ globalgeschichtlich sein eigentliches Zentrum in peripheren Regionen gehabt habe. Allgemeine Zustimmung fand dabei das Konzept eines ‘multipolaren 1968’.

Eine Reihe von weiteren Beiträgen widmete sich grenzüberschreitenden Interaktionen, Vernetzungen und Bezugnahmen: So rekontextualisierte Max Henninger (Berlin) das in den öffentlichen Debatten über ‘1968’ neuralgische Phänomen des ‘bewaffneten Kampfes’ in den global veränderten Konzeptualisierungen emanzipatorischer politischer Praxis, die unter den Vorzeichen von Dekolonisierung, Guerillastrategie sowie Kritik an den etablierten kommunistischen und sozialistischen Politikformen stand. Verschiedene politische Akteure in verschiedenen Ländern nahmen in unterschiedlicher Weise auf dieses globale Paradigma einer ‘Politik der Aktion’ Bezug. Was die verbreitete These einer gleichsam immanenten Kontinuität ‘vom SDS zur RAF’ betriff, hob Henninger hervor, dass ein zeitliches Nacheinander von Studentenbewegung und bewaffneten Gruppierungen im internationalen Vergleich eher die Ausnahme als die Norm gewesen sei. Auch Ilse Lenz (Bochum) griff bei ihren Ausführungen zur neuen Frauenbewegung und ‘1968’ auf den Vergleich als Mittel zurück, wechselseitige Beeinflussungen und parallele Verläufe aufzuzeigen. Sie konzentrierte sich dabei insbesondere auf die BRD, Japan, Korea und die USA und arbeitete heraus, in welcher Form die neuen Frauenbewegungen die emanzipatorischen Ansprüche der Bewegungen um 1968 aufnahmen und sich dabei zugleich von deren Geschlechtsblindheit abgrenzten. Kritisch wurde in der Diskussion danach von einigen Tagungsteilnehmerinnen bemerkt, dass Geschlechterdimensionen auf dieser Tagung nur in einem frauenbewegungsspezifischen, nicht jedoch auch in anderen Beiträgen zur Sprache kamen. Neben der neuen Frauenbewegung bildete ‘1968’ auch für eine Reihe von anderen Bewegungen einen Anstoß. Avishek Ganguly (New York) beschrieb das am Fall der auch heute noch aktiven Naxalitenbewegungen in Ost- und Nord-Ostindien zu Ende der 1960er-Jahre und hob hervor, dass hierbei auch die mit ‘1968’ verbundenen künstlerischen Entwicklungen eine wichtige Rolle spielten, insbesondere das Theater.

Auf welche Weise transnationale Vernetzungen konkret zustande kamen und über welche ‘Infrastrukturen’ sich ‘1968’ über die Grenzen hinweg vermitteln konnten, rückte in einigen spezifischeren Beiträgen in den Mittelpunkt: Samantha Christiansen (Boston) führte anhand der Studentenbewegung in Ostpakistan (späterhin Bangladesh) aus, welche Rolle Studentenaustauschprogramme mit und Migrationsbewegungen nach Großbritannien, die Frequenz von Flügen nach London oder die Präsenz von Leitintellektuellen wie Tariq Ali bei der Formierung der Studierendenbewegung spielten. Benedikt Glatz (Berlin) wiederum thematisierte ein transnationales Element von ‘1968’ par excellence, die Unterstützungsnetzwerke für desertierende US-amerikanische GIs, insbesondere in Westdeutschland. AktivistInnen aus unterschiedlichen Ländern, verschiedenen Generationen der ‘Linken’ sowie Akteure unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft trafen hierbei aufeinander. Auch hier spielte der Anspruch einer konkreten ‘Politik der Aktion’ eine wichtige Rolle.

Wie sich innergesellschaftliche Vernetzungen – v. a. der student-worker-link – knüpften, stand bei Devi Sacchetto (Padua) im Mittelpunkt. Anhand von Interviews mit Aktivisten und Arbeitern von Porto Marghera zeigte er auf, wie vor dem Hintergrund der Konzeptualisierungen des operaismo nach 1968 versucht wurde, Verbindungen zwischen den unterschiedlichen sozialen Bereichen von Universität, Fabrik und Wohnort zu schaffen. Interessantes Detail dieses emblematischen Falls von betrieblicher Radikalisierung und Politisierung im Italien der 1970er Jahre: Nicht wenige der politisch aktiven Arbeiter ließen ab den 1980er Jahren die Fabrik hinter sich und begannen ein Studium an einer Universität.

Zwei Beiträge widmeten sich den Bewegungen in Osteuropa: Hannes Lachmann (Prag/Passau) sprach zur Rezeption des ‘Prager Frühlings’ in Ungarn, Boris Kanzleiter (Berlin/Belgrad) stellte das bis heute ‘unterschätzte’ jugoslawische 1968 vor und bezog die dortigen Ereignisse auf Krisen und Grenzen der ‘Arbeiterselbstverwaltung’. Neben einer Reihe von Rezeptionsbezügen zwischen Ost und West – die Schriften der Neuen Linken wurden im Rahmen der Praxis-Gruppe in Jugoslawien stark rezipiert, intellektuelle Interventionen aus Ungarn (Lukács sowie Schülerinnen und Schüler) hatten andererseits bei der Kristallisierung eben dieser Neuen Linken eine Rolle gespielt – wurde in diesen beiden Beiträgen deutlich, wie widersprüchlich der in diesen Ländern zentrale Begriff der ‘Reform’ war. Denn die mit dem ‘Prager Frühling’ assoziierten Reformen wurden, wie Boris Kanzleiter ausführte, von der Studentenbewegung in Jugoslawien zwar politisch einhellig begrüßt, ökonomisch distanzierten sich die PraxisdenkerInnen jedoch von der Liberalisierung und der vorsichtigen Einführung von Marktelementen. Während im Tito-Regime viele Maßnahmen gegen die Krise der ‘Arbeiterselbstverwaltung’ ökonomisch in eine ähnliche Richtung wie die in Prag vorgeschlagenen Reformen gingen, wurde in der Studentenbewegung Kritik an dieser Wirtschaftspolitik laut, welche die Ungleichgewichte (insbesondere zwischen den jugoslawischen Teilstaaten) erhöhe, Konsumorientierung und Entfremdung verstärke und Menschen im Rahmen der Migration zu einer Exportware degradiere. Statt der tatsächlichen ‘Managerverwaltung’ forderten diese Stimmen eine Wiederbelebung der sozialrevolutionären Ansprüche der Partisanenzeit und eine echte ‘Arbeiterselbstverwaltung’. Anklänge an die Konsum- und Entfremdungskritik der Neuen Linken sind hier genauso vernehmbar wie Bezüge zu dem allgemeinen Aufschwung von Konzepten der Ermächtigung durch die Produzierenden im Gefolge von ‘1968’. Hannes Lachmann wiederum legte dar, in welchem Maße die Prager ‘Reformen’ von den nach 1956 bestimmenden Machteliten in Ungarn als Gefahr für den eigenen ökonomischen ‘Reform’-Kurs betrachtet wurden.

Die verstehenden ‘großen’ Deutungen von ‘1968’ rahmten die Beiträge und Abschnitte ein: Kees van der Pijl (Sussex) setzte in seinem Eröffnungsvortrag die Proteste und Bewegungen von ‘1968’ mit der Durchsetzung des Neoliberalismus ab den späten 1970er Jahren in Bezug und bediente sich dabei jener klassischen Denkfigur, wonach ‘Revolutionen’ über ihre ‘Konterrevolutionen’ zu verstehen seien. Das Widererstarken von Kapitalverwertungslogiken nahm dabei, so van der Pijl, entscheidende Elemente von ‘1968’ mit, insbesondere den Freiheitsimperativ. ‘Freiheit’ sei hierbei allerdings als eine Ökonomisierung individuellen Verhaltens gewendet worden. Die Antwort der Contra auf ‘1968’ und die Erschöpfung des Fordismus war somit ein marktvermitteltes paradigm of choice.

Peter Birke (Hamburg) wiederum beschäftigte sich mit dem Paradigma der ‘Modernisierung’, dem im öffentlichen und akademischen Sprechen über ‘1968’ ein zentraler Platz zufällt. Gegen die mit dem Modernisierungsparadigma assoziierte Vorstellung eines selbsttätigen und kontinuierlichen Prozesses, der von den handelnden Akteuren mehr oder weniger erfolgreiche Anpassungsleistungen erfordere, brachte Birke ein Bild von Gesellschaftsentwicklung in Anschlag, welches das Nicht-Lineare, Diskontinuierliche und Umkämpfte hervorhebt. ‘1968’ habe ein solch diskontinuierliches Ereignis konstituiert, wobei zu beachten sei, dass die ‘1968’ oft zugeschriebenen Folgen bisweilen erfolgreiche Aneignungen, bisweilen von den Akteuren nicht beabsichtigte Konsequenzen, bisweilen von anderen Akteuren erfolgte Reaktionen waren. Einen Automatismus hin zu mehr Freiheit habe es in Gefolge von ‘1968’ jedenfalls nicht gegeben – die Entwicklung in den 1970er Jahren in Lateinamerika wies z. B. in eine ganz andere Richtung.

Gerd Rainer Horn (Warwick) war eingeladen, ein Zwischenresümee zu ziehen und die Schlussdiskussion einzuleiten. Dabei entwickelte er gleichsam die ‘Negative’ zu den in den Vorträgen gegebenen Bildern und konzentrierte sich auf jene Elemente von ‘1968’, die in den Beiträgen angedeutet, aber nicht ausgeführt worden waren. Horn hob hierbei die zentrale Rolle von Kunst, Literatur und Theater, von politischen und kulturpolitischen Zeitschriftenprojekten, sowie von Verlagen und Verlegerpersönlichkeiten hervor. Gleichermaßen bedeutend, aber gemeinhin unterschätzt sei der Einfluss eines progressiven Katholizismus gewesen, von linkskatholischen Gewerkschaftsmilieus in Frankreich oder Belgien bis zur Befreiungstheologie in Lateinamerika. Die Rolle von SchülerInnen der Sekundarstufe – die ‘1968’ in fast allen Ländern präsent waren, in manchen gar eine entscheidende Rolle spielten – sei ein weiterer ‘weißer Fleck’ der Forschungen zu ‘1968’. Wichtig für ein Verständnis der späten 1960er Jahre seien zudem ideologische Strömungen wie der Maoismus oder der Trotzkismus. HORN verweis schließlich auch darauf, dass es, abgesehen von führenden Persönlichkeiten, über die individuellen Lebenswege von AktivistInnen noch kaum Kenntnis gebe.

“Was hat sich durchgesetzt, was ist Vergangenheit. Wer sind Gewinner und Verlierer von ‘1968’” – diese Fragen leiteten die öffentliche Podiumsdiskussion im Rahmen der Tagung an. Unter der Leitung von Marcel van der Linden diskutierten Frank Deppe (Marburg), Jutta Ditfurth (Frankfurt/Main), Manfred Eder (Linz), Klaus Meschkat (Hannover) und Karl Heinz Roth (Bremen). Als Gewinner identifizierte Deppe jene, die im sich ausweitenden Sozialstaat, insbesondere im Sektor Bildung, Positionen fanden – objektives Langzeitergebnis einer kurzen Periode, in der sich Viele als Subjekte eines globalen revolutionären Prozesses wahrnahmen. Für das andere Ende der Skala gab Roth Beispiele von ’68ern’, die an den Folgeprozessen von ‘1968’ zerbrachen oder in die Abgründe der Gesellschaft gestoßen wurden.

Die Schlussdiskussion nahm einige der wiederkehrenden Motive dieser Tagung erneut auf und konnte die Unabgeschlossenheit des Forschens und Sprechens über ‘1968’ nur bestätigen. Neben der Dialektik von ‘Reform’ und ‘Revolution’, der Beziehung zwischen der ‘Ersten’ und der ‘Dritten Welt’, den Konsequenzen und dem Erbe, dem Verhältnis zwischen ‘antiautoritären’ und neuen Partei-Projekten gab auch die Frage nach dem Wert von globalgeschichtlichen und transnationalen Perspektiven auf die ‘langen 1969er Jahre’ Anlass zur Debatte. Hervorgehoben wurde dabei, dass die globale Koinzidenz von Protest und Mobilisierung um 1968 noch keinen Zusammenhang verbürge. Dieser sei konkret anhand von Bezugnahmen, Rezeptionen, Transfers und Vernetzungen nachzuvollziehen. Der Versuch dieser Tagung, dazu einen Beitrag zu leisten, musste in vielen Belangen ein Perspektiven weitender Zwischenschritt bleiben. Von den verstrickungsreichen öffentlichen und akademischen Diskursen zu ‘1968’ im deutschen Sprachraum hob er sich gleichwohl ab, indem er den Blick weit über Europa hinaus öffnete.

Überblick

Veranstaltet von:
International Conference of Labour and Social History (ITH) und Kammer für Arbeiter und Angestellte Oberösterreichs

Vorbereitungskomitee:
Marcel van der Linden, Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis (IISG), Amsterdam (Koordinator)
Angelika Ebbinghaus, Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen
Feliks Tych, Zydowski Instytut Historyczny, Warszawa
Berthold Unfried, ITH & Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Univ. Wien
Eva Himmelstoss, ITH, Wien

Veranstaltungsort:
Bildungshaus Jägermayrhof der Arbeiterkammer Oberösterreich
Römerstraße 98, 4020 Linz, Österreich

Kontakt:
Eva Himmelstoss
International Conference of Labour and Social History (ITH)
Altes Rathaus, Wipplinger Str. 8, 1010 Wien, Österreich
Fax +43 (0)1 2289469-391, e-Mail: ith[a]doew.at

Inhaltliche Konzeption / Call for Papers

Wenn wir auf die 68er-Protestbewegungen zurückschauen, haben wir einen Zeitkorridor von zwei Jahrzehnten, die sechziger und siebziger Jahre, im Blick. Denn die sozialen und politischen Protestbewegungen lagen weltweit fast überall deutlich vor 1968 und sie ebbten erst Ende der siebziger Jahre endgültig ab. Deshalb stellt “1968” nur eine Chiffre dar.
Die Chiffre “1968” steht für die weltweiten Sozialbewegungen, die vor allem von Jugendlichen und Studierenden getragen wurden, sich durch eine spezifisch “jugendliche” Mentalität, Kultur und Lebensweise auszeichneten und deshalb klassen- und schichtenübergreifend wirksam waren. Die soziale Zusammensetzung dieser Sozialbewegungen variierte von Ort zu Ort und von Land zu Land.
Diese Sozialbewegungen, die in einigen – insbesondere nicht europäischen – Ländern durchaus den Charakter von Sozialrevolten annahmen, waren ein internationales Phänomen und zunehmend auch international vernetzt. Sie reichten von den drei Kontinenten über die Sozialbewegungen der Schwellenländer bis in die Metropolen des kapitalistischen Weltsystems. Innerhalb der Sphäre des Staatssozialismus blieben sie im Wesentlichen auf die CSSR und Jugoslawien sowie einige dissidente Parteiströmungen (Polen, DDR, Ungarn) beschränkt.
Auf dieser Tagung wollen wir vor allem auch außereuropäische Erfahrungen mit einbeziehen und einen Schwerpunkt auf transnational- und transkontinental-vergleichende Analysen legen.

Einleitungsveranstaltung
(Do-Abend, 11.9.08)
Die Einleitungsveranstaltung wird diesen inhaltlichen wie methodischen Rahmen konturieren. Zwei einleitende Vorträge sollen in Form von leitenden Fragestellungen, thematischen Schwerpunktsetzungen, methodischen Fragen – wie beispielsweise der Vergleichbarkeit der Sozialbewegungen und ihrer Darstellung als Protestzyklus – den Rahmen unserer Tagung abstecken und Impulse für die Diskussionen geben.

Panel I und II: Länder-Fallstudien
(Fr, 12.9.08)
In zwei Panels wollen wir uns anhand von sechs Fallstudien dem Anspruch, auf die Protestbewegungen aus globaler Perspektive zu blicken, nähern. Uns ist bewusst, dass die Länderauswahl ein Zugeständnis an die begrenzten Möglichkeiten einer zweitägigen Tagung ist.
In den Länder-Fallstudien wollen wir auf folgende Problemfelder eingehen: Inhaltliche Themen und Schwerpunkte der Sozial- und Protestbewegungen; Protestformen; Breite und gesellschaftliche Akzeptanz; soziale Zusammensetzung; Interaktionen (praktische und intellektuelle Netzwerke); die Auswirkungen staatlicher Repression; nachhaltige Wirkungen und Folgen der sozialen Bewegungen; die länderspezifischen Sozialbewegungen im transnationalen und transkontinentalen Vergleich.

Panel I (Fr. Vormittag)
1. Frankreich und Italien
2. Argentinien, Mexiko und eventuell auch Brasilien
3. USA und Kanada

Panel II (Fr. Nachmittag)
4. Polen und CSSR
5. Senegal und Südafrika
6. Pakistan und Indien

Öffentliche Podiumsdiskussion: “Gewinner und Verlierer der 68er Sozialbewegungen”
(Fr. Abend, 12.9.08)
Die Sozialbewegungen von “1968” haben ein polarisiertes Spektrum von Gewinnern und Verlierern hervorgebracht. Aus der Krise von 1978/79 haben einige Gruppierungen den Weg des sozialen Aufstiegs eingeschlagen und sich in das gesellschaftlich-politische Establishment zu integrieren verstanden. Ihnen stehen viele Verlierer gegenüber, die beruflich, sozial und psychisch unter die Räder gerieten oder kriminalisiert und inhaftiert wurden. Die zwischen diesen beiden Polen stehende Schicht derjenigen, die sich nur partiell arrangierte und weiterhin für eine gesellschaftsemanzipatorische Perspektive eintrat, scheint hingegen schmal, so dass “1968” zur Chiffre werden konnte und durch kein nachhaltiges soziales Gedächtnis unterlegt ist. In der Diskussion wollen wir auch darauf eingehen, inwieweit diese Problematik für alle Sozialbewegungen typisch war oder welche spezifischen Unterschiede es auf globaler Ebene gab.

Panel III: Interaktionen und Synchronisationen – Praktische und intellektuelle Netzwerke
(Sa. Vormittag, 13.9.08)
Gab es Themen und Formen des Protests, die die 68er-Sozialbewegungen weltweit verbanden? Wir wollen uns exemplarisch auf drei Themen konzentrieren, die unseres Erachtens zu weltweiten Interaktionen und Synchronisationen der Protest- und Sozialbewegungen geführt haben und in deren Folge praktische und intellektuelle Netzwerke über Länder und Kontinente hinweg entstanden sind.

1. Verbindende Denkhorizonte und Wissenstransfer
Ein wichtiger konzeptioneller Vorläufer und Begleiter der Sozialbewegungen war die internationale “New Left”, die die traditionelle und insbesondere kommunistische Linke seit der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre verlassen hatte. Sie trug wesentlich zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den autoritären und dogmatisch erstarrten Strukturen des osteuropäischen Staatssozialismus und der kommunistischen Parteien im Westen bei. Im Ergebnis dieser Auseinandersetzungen entstanden neue Modelle und Konzepte gesellschaftlicher Emanzipation und Transformation des Kapitalismus. Die Themen und die international bekannten ReferentInnen der Sommerschule von Korcula (Jugoslawien) stehen beispielhaft für ein intellektuelles Netzwerk, das weltweit auf die Sozialbewegungen Einfluss ausübte. Ebenso wichtig wie intellektuell verbindend waren die Dritte-Welt-Konzepte wie die Theorien zur abhängigen Entwicklung (z.B. André Gundar Frank) und die Programme wie Analysen der Entkolonialisierung (z.B. Frantz Fanon). Die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die Black-Power-Bewegung mit ihren programmatischen Forderungen sensibilisierten die Sozialbewegungen bezüglich rassistischer Politik und Verhaltensweisen. In diesem Panel soll erörtert werden, welche TheoretikerInnen, welche Texte, welche Literatur und welche Musik die Akteurinnen und Akteure der Sozialbewegungen weltweit rezipiert und ihr Denken beeinflusst haben.

2. Vietnamkrieg
Der Protest und Widerstand gegen den Vietnamkrieg verband die 68er-Sozialbewegungen weltweit. Als 1967 die afroamerikanischen Organisationen und die Students for a Democratic Society der USA in ihrem Widerstand gegen den Vietnamkrieg zur Desertion aus der U.S. Army aufriefen, fand dies weltweit Gehör und führte – auch aufgrund des praktischen Engagements für die Kriegsdienstverweigerer – international zu einer praktischen Solidarisierung, aber auch zur politischen Radikalisierung.

3. Rezeption der chinesischen Kulturrevolution
Wie wurde die chinesische Kulturrevolution von den Sozialbewegungen weltweit mehrheitlich wahrgenommen und interpretiert? Warum wurde ihre autoritäre, undemokratische und gewalttätige Seite von weiten Teilen der Sozialbewegungen nicht wahrgenommen oder sogar akzeptiert? Die Rezeption der und die politische Orientierung an der chinesischen Kulturrevolution gehören unserer Meinung nach zu dem noch unbeantworteten Fragenkomplex, wieso die anfänglich antiautoritären Sozialbewegungen sich seit Beginn der 70er Jahre mehrheitlich an autoritären und hierarchisch strukturierten Parteimodellen ausrichteten. Inwieweit gab es bei der Rezeption der chinesischen Kulturrevolution einheitliche – Länder und Kontinente übergreifende – Muster, und inwieweit länderspezifische Differenzen und wenn ja, worin bestanden diese?

Intermezzo
Bevor wir am Samstagnachmittag die Nachwirkungen und Folgen der 68er-Sozialbewegungen thematisieren, sollen die Fragestellungen, Kontroversen, methodischen Anregungen und mögliche weißen Stellen der bisherigen Panels noch einmal zusammengefasst und pointiert werden. Die Aufgabe dieser “Fadenspinnerin”/ dieses “Fadenspinners” ist es, Verbindungen und Klammern zwischen den Panels aufzuzeigen und damit die Schlussdiskussion bereits vorzubereiten.

Panel IV: Nachwirkungen und Folgen der 68er-Sozialbewegungen
(Sa. Nachmittag)

1. Veränderte Lebensstile und Einstellungen
In welchen Bereichen haben die Sozialbewegungen andauernde soziale und mentale Veränderungen bewirkt? Dies gilt unserer Meinung nach für die Frauenbewegungen, die die in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Alltags verankerte Benachteiligung und Unterdrückung von Frauen gesellschaftlich bewusst gemacht und das Geschlechterverhältnis ein Stück weit egalisiert haben. Im Kontext dieser Debatten hat sich auch die Einstellung gegenüber unterschiedlichen sexuellen Orientierungen und Lebensweisen verändert. Ähnliche Anstöße sind von der Ökologiebewegung ausgegangen. In ihrem Kontext entstanden wichtige theoretische Debatten und Gesellschaftskonzepte, die auch heute noch – trotz einer weitgehenden politischen Integration über die Grünen Parteien – nachwirken und zu erheblichen Modifikationen in den gesellschaftlichen und ökonomischen Beziehungen zur Umwelt geführt haben.
Ohne eine Analyse des Verhältnisses der Generationen zueinander ist es nicht möglich, die Sozialpsychologie des sozialen Umbruchs der 1960er und 1970er Jahre zu verstehen. Ein wesentliches Motiv, sich politisch zu engagieren, kam insbesondere in Deutschland aus der Auseinandersetzung mit der Zeit des Faschismus und der Kriegsgeneration der Eltern. Der historisch vergleichende Ansatz wird klären helfen, inwieweit diese Fragestellungen auch für die Sozialbewegungen in anderen Ländern relevant waren.
Dagegen sind die Auswirkungen der Sozialbewegungen auf den sozioökonomischen Zyklus strittig. Zwar waren sie Ende der 1960er/Anfang der 1970er Jahre nicht ohne Einfluss auf den Bereich der Produktion, weil sie die tayloristische Betriebsverfassung in Frage stellten. In welchem Ausmaß die Sozialbewegungen auch einen Anstoß für die Transformation der sozialstaatlich garantierten Arbeitsverhältnisse gaben, die inzwischen weitgehend sozial ungesichert und prekär sind, ist noch nicht beantwortet. Ebenso wenig wie die Frage, inwieweit das aus den Sozialbewegungen hervorgegangene Bedürfnis nach individueller Zeitsouveränität und selbst bestimmter Lebensplanung in diesem Transformationsprozess genutzt wurde.

2. Autoritäre Bewegungen und Gewalt
Ein zentrales Problem der historischen Analyse vom “1968” in Europa ist der Umschlag der antiautoritären Sozialbewegungen seit Beginn der 1970er Jahre in teilweise autoritär und hierarchisch strukturierte Organisationen (“K-Gruppen”, Maoismus), während andere Gruppen den sich abzeichnenden Niedergang der Sozialbewegungen mit paramilitärischen Strukturen und bewaffneter Gewalt beantworteten. Uns ist es wichtig, die “K-Gruppen”/Maoismus wie die bewaffneten Gruppen/ den Terrorismus in diesem Kontext zu analysieren.
In diesem Panel soll auch auf die häufig autoritären politischen Orientierungen der bewaffneten Gruppen in den nicht europäischen Ländern eingegangen – wie zum Beispiel auf deren maoistischen, leninistischen oder stalinistischen Konzepte – und Gemeinsamkeiten beziehungsweise Unterschiede zu den “westlichen” Sozialbewegungen dieser Jahre diskutiert werden.

3. Was ist normal? Die Anti-Psychiatrie-Bewegungen
In vielen Ländern gab es breite Bemühungen um eine Humanisierung und Ent-Institutionalisierung der Psychiatrie. Die historische Rekonstruktion dieser Anti-Psychiatrie-Bewegungen könnte wichtige Einsichten in die Sozialpsychologie des sozialen Umbruchs der 1960er und 1970er Jahre vermitteln, in denen es auch um eine möglichst herrschaftsferne “Normalisierung” abweichender psychischer, “anomaler” Verwaltensweisen ging. Auch in diesem Kontext wurden eine Reihe von Texten publiziert, die weltweit rezipiert wurden und die Einstellungen gegenüber Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – von der gesellschaftlichen Norm abwichen, nachhaltig beeinflussten.

Abschlussdiskussion: “Was bleibt von den 68er-Sozialbewegungen?”

Organisatorische Hinweise:
Konferenzsprachen sind Deutsch, Englisch und Französisch. Ein Referat sollte 20 Minuten nicht überschreiten. Für ReferentInnen ist die Unterbringung und Verpflegung kostenlos, die Reisekosten (APEX-Flüge, Bahnfahrten 2. Klasse) werden nach vorheriger Absprache mit dem ITH-Büro in Wien erstattet. Ein Vortragshonorar wird nicht gezahlt. Eine Publikation in Form eines Sammelbands ist geplant.
Vorschläge für Beiträge (Titel und kurze Zusammenfassung im Umfang von 1-2 Seiten) sowie einen kurzen Lebenslauf (max. 15 Zeilen) richten Sie bitte bis zum 31.10.2007 an die ITH: ith[a]doew.at

Terminkalender:
– Übersendung der Vorschläge auf den CFP: 31.10.07
– Festlegung des vorläufigen Konferenzprogrammes: Jänner 2008
– Übersendung der Referate und Summaries: 30.06.08

Vorbereitungskomitee:
Marcel van der Linden, Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam (Koordinator)
Angelika Ebbinghaus, Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen
Feliks Tych, Zydowski Instytut Historyczny, Warszawa

Kontakt:
Eva Himmelstoss
International Conference of Labour and Social History (ITH)
Altes Rathaus, Wipplingerstr. 8, A-1010 Wien, Österreich
E-Mail: ith[a]doew.at

Programm

Veranstaltungsort: Bildungshaus Jägermayrhof der AK Oberösterreich
Römerstraße 98, 4020 Linz, Österreich

Veranstaltet von der International Conference of Labour and Social History und der Kammer für Arbeiter und Angestellte Oberösterreich, mit freundlicher Unterstützung von Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Oberösterreichischer Landesregierung, Stadt Linz und Friedrich Ebert-Stiftung Bonn

Vorbereitungskomitee
Marcel van der Linden (Koordinator, IISG Amsterdam), Angelika Ebbinghaus (Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen), Feliks Tych (Jüdisches Historisches Institut, Warschau), Berthold Unfried (ITH & Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Univ. Wien), Eva Himmelstoss (ITH)

Konzeption
Wenn wir auf die 68er-Protestbewegungen zurückschauen, haben wir einen Zeitkorridor von Mitte der sechziger bis zur Mitte der siebziger Jahre im Blick. Denn die sozialen und politischen Protestbewegungen lagen weltweit fast überall deutlich vor 1968 und ebbten erst Ende der siebziger Jahre endgültig ab. “1968” steht für die weltweiten Sozialbewegungen, die sich durch eine spezifisch “jugendliche” Mentalität, Kultur und Lebensweise auszeichneten und deshalb klassen- und schichtenübergreifend wirksam waren. Die soziale Zusammensetzung dieser Sozialbewegungen variierte von Ort zu Ort und von Land zu Land.
Diese Sozial- und Emanzipationsbewegungen, die in einigen – insbesondere nicht europäischen – Ländern den Charakter von Sozialrevolten annahmen, waren ein internationales Phänomen. Sie waren vernetzt, nahmen einander als Beispiel oder traten auch nur zur selben Zeit auf. Sie reichten von den Metropolen des kapitalistischen Weltsystems und den “drei Kontinenten” (Che Guevara) bis in das System des Staatssozialismus. Auf dieser Tagung wollen wir vor allem auf außereuropäische Erfahrungen fokussieren und einen Schwerpunkt auf transnational und transkontinental vergleichende Analysen legen.

 

PROGRAMM (10.9.2009)

Simultanübersetzung: Deutsch — Englisch

Donnerstag, 11. September 2008

9.00 – 22.00
Anmeldung der TeilnehmerInnen im Jägermayrhof

13.00 – 14.30
Sitzung des Vorstands und des Internationalen Beirats der ITH

14.30: Pause

15.00 – 17.00
Generalversammlung der Mitgliedsinstitute der ITH

17.30: Aperitif

18.00 – 20.00
Eröffnung der Konferenz durch den Präsidenten der ITH, Berthold Unfried, VertreterInnen der Stadt Linz (Klaus Luger), der AK-Oberösterreich (Brigitte Ruprecht) sowie unseren Gastgeber, Erwin Kaiser, vom Bildungshaus Jägermayrhof
Eröffnungsvortrag: Kees van der Pijl (Sussex): “May 1968 and the Alternative Globalisation Movement – Cadre Class Formation and the Transition to Socialism”
Verleihung des René-Kuczynski-Preises 2008 für herausragende Publikationen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an Jan Peters für sein Buch: “Märkische Lebenswelten. Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack, Prignitz 1550-1800”, Berlin 2007

anschließend
Empfang des Bürgermeisters der Stadt Linz, Franz Dobusch, im Jägermayrhof

Freitag, 12. September 2008

9.00
Einleitung: Marcel van der Linden (Amsterdam) & Angelika Ebbinghaus (Bremen)

9.30
PANEL I (Fallstudien 1)
Vorsitz: Marcel van der Linden

Avishek Ganguly (New York): A “Naxalite International”? A review of some of the Indian protest movements 40 years later

10.00: Kaffeepause

David Mayer (Wien): Kubanischer Zyklus. Ungleichzeitigkeiten und transnationale Zusammenhänge – 1968 aus und in Lateinamerika
Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Wien): China: Das Zentrum der (Welt)-Revolution? Die chinesische Kulturrevolution und ihre internationale Ausstrahlung

12.30
Empfang des Landeshauptmannes von Oberösterreich, Dr. Josef Pühringer, im Jugendgästehaus Linz, Stanglhofweg 3, 4020 Linz

14.00
PANEL II (Fallstudien 2)
Vorsitz: Marcel van der Linden

Samantha Christiansen (Boston): Beyond Liberation: Students and Protest in East Pakistan and the International 1968
Hannes Lachmann (Prag): Der “Prager Frühling” und die ungarische Gesellschaft: Reaktionen und transnationale Einflüsse jenseits der Parteieliten im ostmitteleuropäischen Kontext von 1968

16.00: Kaffeepause

Devi Sacchetto (Padua): When Political Subjectivity Takes Roots. The Case of Porto Marghera (Venice, Italy)

17.30
Intermezzo/Zwischeninventur von Gerd Rainer Horn (Warwick): Welche Interpretationsstränge wurden bisher verfolgt?

anschließend: Diskussion

18.30
Abendessen im Jägermayrhof

20.00
Öffentliche Podiumsdiskussion: “Das Erbe der 68er – Was hat sich durchgesetzt, was ist Vergangenheit? Wer sind Gewinner und Verlierer von 1968”
Ort: Wissensturm der VHS Linz, Festsaal, Kärntner Str. 26, 4020 Linz
VeranstalterInnen: ITH, AK Oberösterreich, VHS Linz
Begrüßung: Stadtrat Hans Maier (Linz)
Podium: Frank Deppe (Marburg), Jutta Ditfurth (Frankfurt/Main), Manfred Eder (Linz), Klaus Meschkat (Hannover), Karl Heinz Roth (Bremen)
Moderation: Marcel van der Linden (Amsterdam)

Hinweis: Die Podiumsdiskussion findet in deutscher Sprache ohne Simultanübersetzung statt.

Samstag, 13. September 2008

9.00
PANEL III (Interaktionen, Netzwerke und Denkhorizonte)
Vorsitz: Angelika Ebbinghaus

Paul Benedikt Glatz (Berlin): “To American Soldiers in Europe”: GI-Agitation und amerikanische Deserteure in Europa während des Vietnamkriegs
Christoph Kalter (Potsdam): “Dritte Welt”, Frantz Fanon und radikale Linke in Frankreich, den USA und der Bundesrepublik. Zur Geschichte eines zentralen mobilisation myth der 68er Jahre

11.00: Kaffeepause

Boris Kanzleiter (Berlin): Neue Linke und Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien

12.30
Mittagessen im Jägermayrhof

14.00
PANEL IV (1968: Nachwirkungen und Folgen)
Vorsitz: Angelika Ebbinghaus

Max Henninger (Berlin): Von der “antiautoritären Revolte” zum “bewaffneten Kampf”. Ein internationaler Vergleich mit den Schwerpunkten BRD und Italien
Peter Birke (Hamburg): Die Sozialproteste der 1968er Jahre und ihre Folgen – “Modernisierungsschub” und “kulturelle Revolution”

16.00: Kaffeepause

Ilse Lenz (Bochum): Die neuen Frauenbewegungen und 1968. Ein internationaler Vergleich mit dem Schwerpunkten BRD, Japan und Korea

17.30
Schlussdiskussion
Moderation: Gerd Rainer Horn

19.00
Abendessen im Jägermayrhof

Sonntag, 14. September 2008

Abreise der TeilnehmerInnen nach dem Frühstück

Abstracts der Beiträge

Peter Birke (Historisches Seminar, Universität Hamburg)
Die Sozialproteste der 1968er Jahre und ihre Folgen – “Modernisierungsschub” und “kulturelle Revolution”

In der jüngsten Historiografie der 1968er Jahre spielt die These, dass die Folgen der Revolte als “Modernisierungsschub” bezeichnet werden können, eine wichtige Rolle. Die mit dieser These verbundenen Forschungen richten ihre Aufmerksamkeit aktuell unter anderem auf die Untersuchung einer “kulturellen Revolution”, die sich in den nordwesteuropäischen Gesellschaften in Formen wie dem Massenkonsum oder der Popkultur sowohl geäußert als auch artikuliert habe. Betont wird, dass die Proteste und sozialen Kämpfe um das Jahr 1968 herum lediglich eine Art Katalysator waren, dessen Impulse schließlich in Innovationen der westlichen Gesellschaften überführt worden seien. Aber kann die globale Protestbewegung wirklich als “kulturelle Revolution” begriffen werden? Wie schreibt sich diese These in einen Diskurs ein, der den “neuen Geist des Kapitalismus” als wesentlich postindustriell, immateriell und informell beschreibt? In welchem Verhältnis steht die Setzung von der “kulturellen Revolution” zu den Veränderungen in den Herrschaftsbeziehungen innerhalb der Arbeitswelt und zum Begriff der Arbeit überhaupt? In meinem Vortrag werde ich danach fragen, ob der universalistische Begriff der “Moderne”, mit dem diese Forschungen operieren, geeignet ist, die Transnationalität und Globalität der Protestbewegungen der 1968er Jahre zu erfassen.

Samantha Christiansen (Department of History, Northeastern University, Boston)
Beyond Liberation: Students and Protest in East Pakistan and the International 1968

This paper seeks to locate East Pakistan (presently Bangladesh) in the study of 1968. The postwar period in East Pakistan was marked by decades of student agitation eventually leading to national independence. Perhaps as a result of the traumatic experiences of the 1971 Liberation War, the East Pakistan student movement is frequently examined in nationalist terms, focusing on the contributions made by students during the turbulent period of liberation. Yet the East Pakistani student movement of the late 1960’s also demonstrates an engagement with the larger international phenomenon of student revolts of “1968”. In the late 1960s, culminating in the largest student demonstrations of 1968, student activists in East Pakistan challenged the cultural and political status quo and asserted a political identity rooted in culture and youth. They participated in transnational activities via West Pakistan and London, in particular, and recreated the “spirit of ’68” in local terms. Building on the theoretical foundation of viewing “1968” as a case in which “different languages of radicalism arose in different contexts that shared a common vocabulary but derived their grammar from their concrete historicity,” (Dirlik: 1998) this paper draws on primary and secondary material from participants in “1968” both in East Pakistan and in other national arenas that came into contact with East Pakistan to demonstrate the international components as well as the expressions of 1968 particular to the context of East Pakistan.

Avishek Ganguly (Dept of English/Center for Comparative Literature and Society, Columbia University, New York)
A ‘Naxalite International’? A review of some of the Indian protest movements 40 years later

Utpal Dutt’s Bengali play Teer [The Arrow] (1967) – one of the earliest dramatizations of the militant left Naxalite movement that started off in the foothills of northern Bengal around that time only to be severely repressed by the state soon after – stages some important questions in revolutionary politics in India: autochthonous agency, the politics of language and representation, vanguardism and the role of the party etc. Founded in April, 1968, the Calcutta-based English weekly Frontier, on the other hand, became an important site for the debates and discussions not only about revolutionary politics and culture in India but significantly, also contemporary global protest movements and conflicts ranging from May ’68 in Paris and the Black Panthers in the US to the Biafran War in Nigeria. When read together, the literary and the journalistic texts might thus provide us with interesting insights for rethinking a comparative context for the discussion of trans/national political protest movements both during the sixties and in the present.

Paul Benedikt Glatz (Freie Universität Berlin)
‘To American Soldiers in Europe’: GI-Agitation und amerikanische Deserteure in Europa während des Vietnamkriegs

Dieser Vortrag untersucht, welche Rolle amerikanische Deserteure und GIs in internationalen Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg spielten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Westdeutschland und West-Berlin im europäischen und transatlantischen Kontext. Während der zweiten Hälfte der 1960er Jahre begannen amerikanische Deserteure, Veteranen und sogar GIs innerhalb der US-Streitkräfte, Protest gegen den Krieg in Indochina zu äußern. Zivile Gruppen riefen ihrerseits zu Desertion und Widerstand innerhalb der Kasernen auf. Diese Proteststrategie wurde nicht nur von Aktivisten in den USA, sondern auch in Europa und Japan verfolgt, wo eine große Zahl von US-Truppen stationiert war.
Über intellektuelle Netzwerke und Ideendiffusion zwischen Protestbewegungen um 1968 hinaus, widmet sich dieser Beitrag praktischeren Formen von internationaler Protestzusammenarbeit. Als Beispiel für eine solche Praxis dienen die Verbindungen zwischen amerikanischen Deserteuren und GIs und zivilen Protestgruppen in Westdeutschland und West-Berlin. Der Vortrag untersucht, inwiefern die Präsenz der US-Streitkräfte in Deutschland die Mobilisierung von Vietnamprotest hier beeinflusste, wie GIs ein wichtiges Agitationsziel wurden und wie einige US-Soldaten und Deserteure zu Alliierten von zivilen Protestgruppen wurden. Weiterhin werden Formen und Möglichkeiten zur Kooperation zwischen diesen unterschiedlichen Gruppen betrachtet. Befriedigte diese Proteststrategie den Wunsch nach konkreten Aktionen, besonders deutlich im Aufruf des West-Berliner Vietnam-Kongress im Februar 1968, den Schritt “vom Protest zum Widerstand” zu vollziehen? Schließlich geht der Beitrag der Frage nach, ob die Praxis der Unterstützung von Deserteuren und die Zusammenarbeit mit oppositionellen GIs eine Rolle in der allgemein beobachteten Radikalisierung der Protestbewegungen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren spielten.

Max Henninger (Berlin)
Von der ‘antiautoritären Revolte’ zum ‘bewaffneten Kampf’. Ein internationaler Vergleich mit den Schwerpunkten BRD und Italien

In mehreren Ländern, in denen in den 1960er Jahren eine Studentenbewegung aktiv war, kam es bereits kurze Zeit später zur Entstehung von bewaffneten Untergrundgruppen. Wo sind die Gründe dafür zu suchen und wie stark war die Kontinuität zwischen ihnen und der Studentenbewegung? Nach einem Überblick über die in der aktuellen Forschungsliteratur vertretenen Positionen sollen die weltweiten politischen Ereignisse, vor deren Hintergrund sich das Abflauen der Studentenbewegung und die Entstehung der bewaffneten Gruppen vollzogen haben, kurz skizziert werden. Dabei sollen insbesondere jene internationalen Entwicklungen benannt werden, die für Studentenbewegung und bewaffnete Gruppen gleichermaßen als politische Bezugspunkte fungierten. Im Anschluss an die Skizze des internationalen Kontextes wird schwerpunktmäßig auf die BRD und Italien einzugehen sein: zwei Länder, in denen die Entstehung bewaffneter Gruppe einen besonders tiefen und bis heute vieldiskutierten Einschnitt markiert. Dabei sollen einige Etappen im Übergang von der “antiautoritären Revolte” zum “bewaffneten Kampf” aus den Jahren 1969-71 in den beiden Ländern benannt und relevante Wortmeldungen der damaligen ProtagonistInnen – von deren auch heute noch starker Befangenheit auszugehen sein wird – mit einander verglichen werden.

Christoph Kalter (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam)
‘Dritte Welt’, Frantz Fanon und radikale Linke in Frankreich, den USA und der Bundesrepublik. Zur Geschichte eines zentralen mobilisation myth der 68er Jahre

Eingeführt im Frankreich der 1950er Jahre, wurde der Begriff “Dritte Welt” bald in zahllose Sprachen übertragen und blieb dreißig Jahre lang ein Paradigma sozialwissenschaftlicher, journalistischer und alltagssprachlicher Weltdeutungen. Im Kontext des Algerienkriegs wurde die Dritte Welt auch zentraler Bestandteil politischer Diskurse. Dabei oszillierte sie von Anfang an zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung: Frantz Fanon und andere Sprecher der Dritten Welt adaptierten das Konzept, gaben ihm neue Akzente und machten es zum Mobilisierungsmythos anti- und postkolonialer Projekte des nation building oder kollektiver Interessenvertretung (Blockfreie, Gruppe 77, Trikontinentale). Doch auch in den westlichen Gesellschaften hatte das Konzept eine wichtige Funktion, und dies vor allem für eine neue, radikale Linke. Diese verdankte der Dritten Welt einerseits ihre Genese und ihr Profil, machte andererseits aber durch ihre Repräsentationen und Praktiken die Dritte Welt überhaupt erst zu einer diskursiven und politischen Realität. Dritte Welt und radikale Linke entstanden also nicht nur in etwa zur selben Zeit, sondern waren wechselseitig konstitutiv. Das mit der Dritten Welt verbundene Arsenal von Theoremen, Bildern und Werten erleichterte zudem die transnationale Kommunikation und Synchronisierung der radikalen Linken und der Protestbewegungen in verschiedenen Ländern, wie am Beispiel Frankreichs, Westdeutschlands und der USA skizziert werden soll. Die grundlegende Ambivalenz des linksradikalen Dritte-Welt-Diskurses der 68er Jahre – einerseits Ermächtigung neuer Akteurssubjekte, andererseits eurozentrische Projektionen – hinterlässt ein reiches, aber schwieriges Erbe, das in aktuelle Debatten über “Globalisierung” eingegangen ist.

Boris Kanzleiter (Freie Universität Berlin)
Neue Linke und Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien

Im Zentrum der Massenproteste vom Juni 1968 in Jugoslawien standen Auseinandersetzungen um das Modell der “Arbeiterselbstverwaltung”, welches die jugoslawischen Kommunisten nach dem Bruch mit Moskau 1948 als Alternative zum Sowjetsystem entwickelt hatten. Die demonstrierenden Studenten und Professoren der besetzten “Roten Universität Karl Marx” in Belgrad affirmierten dabei grundsätzlich die Idee einer “direkten Produzentendemokratie” und eines “demokratischen Sozialismus”, so wie sie in der Verfassung und dem Parteiprogramm des herrschenden Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) formuliert waren. Sie kritisierten aber die mangelnde Umsetzung der Parteiversprechen. Die Persistenz bürokratischer Kontrollmechanismen, Privilegienwirtschaft sowie wachsende soziale und regionale Ungleichheiten deuteten in der Perspektive der Protestbewegung auf schwer wiegende Probleme und Defizite in der Gesellschaftsentwicklung hin. Im vorliegenden Paper sollen die Auseinandersetzungen um die “Arbeiterselbstverwaltung” im weiteren Kontext der Herrschaftskritik der jugoslawischen Neuen Linken am Ende der 1960er und Beginn der 1970 Jahre dargestellt werden. Es soll außerdem nach der Rezeption dieser Debatten in der westlichen (Neuen) Linken gefragt werden, die ihrerseits nach Alternativen zum etatistischen Sozialismusmodell in Osteuropa suchte.

Hannes Lachmann (Karlsuniversität Prag/Universität Passau)
Der ‘Prager Frühling’ und die ungarische Gesellschaft: Reaktionen und transnationale Einflüsse jenseits der Parteieliten im ostmitteleuropäischen Kontext von 1968

Der tschechoslowakische Reformprozess von 1968 ist seit Jahrzehnten Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Untersuchungen. Zugunsten einer großmachts-, national- oder parteipolitischen Perspektive wurden die Reaktionen innerhalb der Nachbargesellschaften bisher oft vernachlässigt. In diesem Beitrag sollen deshalb jenseits der Parteieliten Reaktionen verschiedener Trägergruppen der ungarischen Gesellschaft auf Entstehung, Verlauf und Niederschlagung des tschechoslowakischen Liberalisierungsprozesses erörtert werden. Denn auch in Ungarn gab es ein Echo auf die Militäraktion gegen die ČSSR, z.T. sogar in Form von Protesten, wobei es im Vergleich zu ČSSR, Polen, Jugoslawien und DDR scheinbar dennoch sehr ruhig blieb. Gestalt und Ausmaß dieser Reaktionen sowie ein ihnen vorausgegangener und nachfolgender Austausch zwischen Tschechoslowakei und Ungarn sollen Gegenstand dieser Untersuchung sein. Dazu gehören auch die Auswirkungen auf das weitere Widerstands- bzw. Reformverhalten in Ungarn. Es sollen Protestaktionen und Versöhnungsgesten – oder auch deren explizite Abwesenheit – bei Intellektuellen, Wissenschaftlern Gewerkschaften und Studenten aufgegriffen werden. Deren Verhalten soll nicht nur dargestellt, sondern auch in den ungarischen Gesamtkontext dieser Zeit gesetzt werden. Schließlich war in Ungarn 1968 ein umfassendes, auf die Wirtschaft begrenztes Reformprogramm angelaufen, mit dem sowohl die politische Führung als auch breite Teile der Bevölkerung große Hoffnungen (allerdings auch gewisse Ängste) verbanden. Darin und in den eigenen Erfahrungen seit 1956 sind wesentliche Ursachen nicht nur für die scheinbare Ruhe bei breiten Teilen der ungarischen Bevölkerung zu sehen, sondern ebenso für deren große, bis heute erkennbare Anteilnahme und Sympathie gegenüber dem militärisch erstickten tschechoslowakischen Reformexperiment.

Ilse Lenz (Lehrstuhl für Geschlechter- und Sozialstrukturforschung, Ruhr-Universität Bochum)
Die neuen Frauenbewegungen und 1968. Ein internationaler Vergleich mit dem Schwerpunkten BRD, Japan und Korea

In den USA, Westeuropa, aber auch in Japan entstanden die neuen Frauenbewegungen in der Auseinandersetzung mit den 1968er Bewegungen. Dies war kein Zufall. Die 68er Bewegungen thematisierten Fragen wie die der gesellschaftlichen Befreiung, der strukturellen Macht und der Kapitalismuskritik, die die Frauen ermutigten, ihre Rolle in diesen politischen Kontexten ebenso zu hinterfragen wie ihre gesellschaftliche Rolle insgesamt. Die Kapitalismuskritik erweiterten die Frauen zu einer grundlegenden Infragestellung patriarchalischer Strukturen in den allen gesellschaftlichen Bereichen und Beziehungen. Die Eingangsthese dieses Beitrags ist, dass die wirkungsmächtigsten sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts, die neuen Frauenbewegungen, diese Ausgangspunkte mit den 68er Bewegungen teilt, sie aber konkretisiert und damit die demokratischen Potentiale der 68er Bewegungen weiter entwickelt hat.
In einem zweiten Schritt sollen die inneren Transformationen der neuen Frauenbewegungen in den Gesellschaften der Bundesrepublik Deutschlands und Japans konkret und ausführlich dargestellt werden, die erstaunlicherweise parallel verlaufen sind, von erstens der Bewusstwerdungs- und Artikulationsphase (1968-1975) über zweitens die Konsolidierungs-, Professionalisierungs- und Differenzierungsphase (1978-1989) bis drittens zur Internationalisierung und Neuorientierung seit 1989. Auf die letzte Phase wird allerdings nur im Ausblick kurz eingegangen. Zum Kontrast wird die Entwicklung der Frauenbewegung in Südkorea unter der Diktatur und in der Demokratie umrissen.
Die Grundthese, dass die neuen Frauenbewegungen nach dem 1968er Aufbruch Demokratisierungsansätze erweitert, konkretisiert und umgesetzt haben, soll anhand ausgewählter Themen vergleichend betrachtet und konkret dargestellt werden. Im Zuge ihrer Formierung bildeten sie Kleingruppen und Netzwerke, in denen sich vor allem Frauen aus verschiedenen Lebensbereichen und Schichten zusammenfanden. Sie forderten weibliche wie persönliche Autonomie in ihrer radikalen Kritik an den bestehenden Strukturen und Beziehungen ein, sie hinterfragten ihre Unterordnung im privaten und sexuellen Bereich, aber kritisierten ebenso ihre Ausgrenzung im beruflichen, im öffentlichen und politischen Feld. Auf die Kampagnen (Selbstbestimmung über den Körper und die Sexualität) und Projekte (Frauenhäuser gegen Gewalt gegen Frauen), die in dieser Phase in den verschiedenen Ländern entstanden, wird ebenso vergleichend eingegangen wie auf den Themenbereich Migration/Internationalisierung.
Die Diskurse und Forderungen der neuen Frauenbewegungen trugen in allen drei Gesellschaften entscheidend zum Bewusstseinswandel bei. In der Phase der Konsolidierungs-, Professionalisierungs- und Differenzierung (1978-1989) wurden die unterschiedlichsten Frauenprojekte in Medien, Kultur und Sozialarbeit gegründet. An den Hochschulen wurden Frauenseminare und die ersten Frauenforschungsprojekte gegründet, aber auch Kirchen, Gewerkschaften und Verbände öffneten sich feministischen Fragen und Projekten. Die Lesbenbewegung wie später die der Migrantinnen stehen beispielhaft für plurale und flexible Identitäten innerhalb der Frauenbewegungen.

David Mayer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien)
Kubanischer Zyklus, Ungleichzeitigkeiten und transnationale Zusammenhänge – 1968 aus und in Lateinamerika

Diesem Beitrag geht die Leitfrage voran, ob sich ein lateinamerikanisches 1968 als großregionaler bzw. kontinentaler Zusammenhang begründen lässt. Dies gilt zunächst für die Ebene des Unmittelbaren und Gleichzeitigen, also jene Ereignisse, die sich in großer zeitlicher Nähe zum Pariser Mai und ähnlich beispielhaften Prozessen vollzogen (z. B. die Ereignisse in Mexiko oder im argentinischen Córdoba). Zugleich lässt sich 1968 auch in Lateinamerika zeitlich wesentlich breiter definieren. In solch einer langfristigen Perspektive fällt der Kubanischen Revolution und ihrer transnationalen Wirkmacht im Lateinamerika der 1960er Jahre besondere Bedeutung zu. Der Zyklus der Kubanischen Revolution kann zudem als ein wichtiger außereuropäischer Faktor für das Entstehen des globalen “1968” gedeutet werden. Mit Blick auf eine außereuropäische Großregion sollen Einheit und Bedeutungsvielfalt von 1968 debattiert und sowohl die “Ungleichzeitigkeiten im Zusammenhang” als auch die “zusammenhangslosen Gleichzeitigkeiten” ein Stück weit herausgearbeitet werden.

Kees van der Pijl (Department of International Relations, University of Sussex)
May 1968 and the Alternative Globalisation Movement – Cadre Class Formation and the Transition to Socialism

By the confluence of workers’ struggles and the student movement, May 1968 was the first time in history that ‘the collective worker’ theorised by Marx made its self-conscious appearance on the political stage as a movement. The movement was worldwide, erupting in the Western Europe and the Americas, as well as in state-socialist countries. In the ensuing years it became contained by forcing it into the straitjacket of national politics as mainstream Left parties restored their hegemony and the contestation of capitalism and imperialism also shifted to national and inter-national formats. The alternative globalisation movement on the other hand has emerged as a straightforward global movement, retaining the ‘collective worker’ dimension but transcending the division of the world into separate sovereignties. It too is subject to a powerful counteroffensive, the neo-imperialism of the ‘War on Terror’ – which attacks the alternative globalism at the heart by rekindling animosity and distrust along ethno-religious lines. It is in this force-field that contemporary social struggles evolve.

Devi Sacchetto (Dipartimento di Sociologia, Università di Padova)
When Political Subjectivity Takes Roots. The Case of Porto Marghera (Venice, Italy)

This paper analyzes the political campaigns that developed in the industrial area of Porto Marghera between the late Sixties and the late Seventies. In those years a deep social rupture between trade unions and political parties on the one hand and the working class on the other took the centre of the stage. Through 24 life history video-interviews the paper investigates the path of political activism of these groups of workers, both factory intellectual workers, according to a pattern that can be traced to the so-called Italian operaismo (Workerism).
Those groups came from very different backgrounds and political experiences. They joined to fight for equalitarianism, for a pro-worker use of science, for the idea of “refusal of work” and against hazardous working conditions. Between 1968 and 1973 this movement was able to place the “hell of production” within a political agenda, thus breaking barriers between work in universities, the world of industrial work and the world of domestic reproduction. When political tension decreased and repression expanded, few people decided to join official trade unions or political parties. These factory workers chose to retire to private life or, in a few cases, to join the new social movements developing in the 1980-90’s.

Susanne Weigelin-Schwiedrzik (Institut für Ostasienwissenschaften, Universität Wien)
China: Das Zentrum der (Welt)-Revolution? Die chinesische Kulturrevolution und ihre internationale Ausstrahlung

Im Kontext der von Edward Shils entwickelten und Smuel Eisenstadt auf Asien übertragenen Theorie des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie diskutiert dieser Vortrag die Frage, ob es der VR China und der KPCh in der Zeit zwischen 1966 und 1969 gelungen ist, Peking als symbolisches Zentrum zu etablieren, obwohl das Land ansonsten im System der internationalen Beziehungen eine periphere Position eingenommen hat.
Eingangs wird im Vortrag ein Erklärungsmodell für die Kulturrevolution vorgestellt, das diese in den Zusammenhang fundamentalistischer Bewegungen stellt. Von diesem Erklärungsmodell ausgehend wird untersucht, inwiefern die Jugend- und Studentenbewegungen der sechziger Jahre Bezug auf die Kulturrevolution nehmen. Anhand einer Reihe von Fallstudien wird analysiert, inwiefern sich die Rezeption der Kulturrevolution kultur- und länderspezifisch unterscheidet. Dabei wird der viel diskutierten These nachgegangen, dass die Attraktivität der Kulturrevolution in dem Versuch besteht, eine alternative Moderne zu definieren und in die Praxis umzusetzen, die sich sowohl von der marktorientierten als auch von der real-sozialistischen Variante der Moderne unterscheidet.

TeilnehmerInnen

Ardelt Rudolf, Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte, Johannes Kepler-Universität Linz
Bauer Ingrid, Fachbereich Geschichte der Universität Salzburg
Benser Günter, Förderkreis Archive u. Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin
Birke Peter, Historisches Seminar, Universität Hamburg
Bitzegeio Ursula, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
Botz Gerhard, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien
Christiansen Samantha, Department of History, Northeastern University, Boston
Chung Hyun-Back, Department of History, Sung Kyun Kwan University, Seoul
Csaszar Oliver, Universität Innsbruck
Ditfurth Jutta, Frankfurt am Main
Deppe Frank, Frankfurt am Main
Buckmiller Michael, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hannover
Ebbinghaus Angelika, Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen
Ehmer Josef, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien
Fischer Ilse, Friedrich-Ebert-Stiftung Bonn
Franc Martin, Ústav pro Soudobé dejiny AV CR, Praha
Fuchs Daniela, Historische Kommission beim Parteivorstand DIE LINKE, Berlin
Ganguly Avishek, Dept of English/Center for Comparative Literature and Society, Columbia University, New York
Garscha Winfried, ITH, Wien
Glatz Paul Benedikt, FU Berlin
Grages Christian, Hannover
Groppo Bruno, CNRS, Université de Paris I, Centre d’Histoire Sociale du XXe Siècle
Hapák Pavel, Vysoká škola Višegradu, Slowakei
Henninger Max, Berlin
Himmelstoss Eva, ITH, Wien
Hocheneder Helga, AK Oberösterreich, Linz
Höpfl Thomas, AK Oberösterreich, Wissenschafts- und Forschungsmanagement, Linz
Hofmann Jürgen, Historische Kommission der Partei DIE LINKE, Berlin
Horn Gerd-Rainer, Department of History, University of Warwick, UK
Hüttner Bernd, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin
Ito Narihiko, Japan-Komitee der ITH, Kakamura, Japan
Jemnitz János, Magyar Tudományos Akadémia, Budapest
Kaiser Erwin, AK-Bildungshaus Jägermayrhof, Linz
Kalter Christoph, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Kandilarov Evgeny, Centre for Historical and Political Studies, Sofia
Kanzleiter Boris, FU Berlin
Kocian Jirí, Ústav pro soudobé dejiny AV CR, Prag
Konok Petér, Politikatörténeti Intézet, Budapest
Kronsteiner Günter, Wien
Lachmann Hannes, Karlsuniversität Prag/Universität Passau
Lenz Ilse, Lehrstuhl für Geschlechter- und Sozialstrukturforschung, Ruhr-Universität Bochum
Lewis Jill, Department of History, Swansea University, Wales, Großbritannien
Lichtenberger Sabine, Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte, Wien
Lorenz Gerald, AK Oberösterreich, Linz
Macfarlan Cohen June, Socialist History Society, London
Marjanucz Eva, Szeged
Marjanucz László, Department of Modern and Contemporary Hungarian History, Univ. Szeged
Mayer David, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien
Meschkat Klaus, Institut für Soziologie und Sozialpsychologie, Univ. Hannover
Mittag Jürgen, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum
Mucsi Ferenc, Institut f. Geschichte der Ungarischen Akademie d. Wissenschaften, Budapest
Mulley Klaus-Dieter, Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte, Wien
Mulot Tobias, Hamburg
Neuhauser Magdalena, Universität Wien
Neunsinger Silke, Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek, Stockholm
Pellar Brigitte, ITH, Wien
Peters Jan, Potsdam
Plener Ulla, Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin
Prenninger Alexander, Ludwig-Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft, Salzburg
Rabius Ragnhild, Hannover
Renner Heinz, ITH & Ministerialbibliothek Bundesministerium für Finanzen, Wien
Roth Karl Heinz, Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen
Sacchetto Devi, Dipartimento di Sociologia, Università di Padova
Schiller Benjamin, Universität Wien
Schindler Christine, ITH & Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien
Schleicher Korbinian, ITH, Wien
Schneider Michael, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn
Schneider-Mizony Odile, Département d’Etudes Allemandes, Université Marc Bloch, Strasbourg
Schwitanski Alexander, Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick, Deutschland
Seeck Wolfgang, Friedrich-Ebert-Stiftung, Köln
Sperling Cornelia, RevierA GmbH – Agentur für Kultur und Kommunikation, Essen
Spreitzer Roland, AK Oberösterreich, Linz
Steinmayr Wolfgang, Universität Wien
Straka Jaroslav, Juridische Fakultät Janko Jesenský, Hochschule Sládkovicovo, Slowakei
Ulbrich Claudia, Friedrich-Meinecke-Institut, FU Berlin
Unfried Berthold, ITH, Wien
van der Linden Marcel, Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam
van der Pijl Kees, Department of International Relations, University of Sussex, Großbritannien
Weigelin-Schwiedrzik Susanne, Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien
Weitbrecht Susanne, Institut für Auslandwissenschaft, Universität Erlangen
Wirleitner Florian, Universität Wien
Xhumari Merita, Department of Poltical Sciences, Sociology & Philosophy, University of Tirana

 

Bitte beachten Sie:
Die Linzer Konferenzen sind Veranstaltungen der Mitgliedsinstitute der ITH. Die TeilnehmerInnen zahlen nur einen — im internationalen Maßstab geringfügigen — Tagungsbeitrag (€ 80,- mit bzw. € 40,- ohne Übernachtung) für Konferenzmaterialien, Simultanübersetzung und Mahlzeiten. Die übrigen Ausgaben werden — sofern sie nicht durch staatliche Subventionen, Zuschüsse von Kammern und Gewerkschaften bzw. Spenden abgedeckt werden können — von den Mitgliedsinstituten getragen. Die Delegierung erfolgt daher über die Mitgliedsinstitute der ITH. Voraussetzung für Einzel-Anmeldungen ist die individuelle Mitgliedschaft bei der ITH.