René-Kuczynski-Preis 2010
an Silke Fengler für ihr Buch:
Entwickelt und fixiert. Zur Unternehmens- und Technikgeschichte der deutschen Fotoindustrie, dargestellt am Beispiel der Agfa AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen (1945-1995)
Essen: Klartext 2009 (= Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte, Bd. 18), 311 Seiten, ISBN 978-3-8375-0012-7
Die Jury des Vereins zur Vergabe des René Kuczynksi Preises hat als Preisträgerin für 2010 die deutsche Historikerin Silke Fengler nominiert.
Die Preisverleihung fand im Rahmen der Eröffnungsfeier der 46. Linzer Konferenz der ITH am 9. September 2010 im Jägermayrhof statt.
Dr. Silke Fengler
geb. 1971 in München, seit 2007 Projektmitarbeiterin und Lektorin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Studium der Geschichte an den Universitäten München und Köln sowie der Politikwissenschaft an der Hochschule für Politik München. Studium der Volkswirtschaftslehre sozialwissenschaftlicher Richtung an der Universität Köln. Examen in Köln zur Dipl.-Volkswirtin (2001) und zur Magistra Artium (2002).
Wissenschaftliche Tätigkeit am Forschungsinstitut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Köln und am Lehrstuhl für Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Bonn. Abschluss der Promotion zur vergleichenden Unternehmensgeschichte der Agfa-Gevaert AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen am Lehrstuhl für Geschichte der Technik der RWTH Aachen (2007).
Besonderes Forschungsinteresse an der Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte der BRD/DDR, der Geschichtswissenschaft im Rahmen des Iconic Turn sowie der Geschichte der Atom-/Kernphysik im 20. Jahrhundert.
Jury
Univ.-Prof. Dr. Gerhard Botz (Institut für Zeitgeschichte der Univ. Wien)
Univ.- Prof. Dr. Josef Ehmer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Univ. Wien)
Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann (Berlin)
Prof. Dr. Jörg Roesler (Berlin)
Prof. Dr. Claudia Ulbrich (Friedrich-Meinecke-Institut, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der FU Berlin)
Univ.-Doz. Dr. Berthold Unfried (ITH & Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Univ. Wien)
Laudatio von Jörg Roesler
Laudatio von Jörg Roesler, Berlin, anlässlich der Verleihung des René Kuczynski-Preises 2010 an Silke Fengler (vorgetragen von Berthold Unfried)
Geschätzter Preisträgerin, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,
im Mittelpunkt der preisgekrönten Publikation steht ein technisches Verfahren, die Silberhalogenid- Fotografie, d. h. die fotochemische Herstellung von Rollfilmen für den Amateurbedarf und von kinematografischen Filmen. Dieses Verfahren war seit Ende des 19. Jahrhunderts unmittelbar mit dem Namen eines Unternehmens, der Agfa, verbunden. Silke Fengler schildert die Experimentierphase, untersucht die Expansion des Verfahrens und seine qualitative Vervollkommnung, die in den 1960er Jahren ihren Höhepunkt erreichte. Sie geht den Ursachen der in den 1970er Jahren einsetzenden Stagnation des fotochemischen Verfahrens und seiner weltweiten Verdrängung durch die digitale Fotografie nach, die zur Schließung des ostdeutschen Agfa-Betriebes, des VEB Filmfabrik Wolfen Mitte der 1990er Jahre und dann auch des Leverkusener Unternehmens der Agfa-Gevaert-Gruppe ein Jahrzehnt später geführt hat.
Silke Fenglers Werk ist zunächst einmal mehr als eine traditionelle Technikgeschichte, die der Bielefelder Technikhistoriker Jochen Radkau vor einiger Zeit als „Geschichte vom Siegeszug des technischen Fortschritts und von opferfreudigen, genialen Erfindern“ (Radkau, S. 10) charakterisiert hat, von der er sich aber distanziert. Während diese Art Technikgeschichtsschreibung ganz überwiegend nur die erfolgreichen Innovationen in der Erinnerung kultiviert, widmet Silke Fengler ein Drittel ihres Buches den Phasen der Stagnation und des Niedergangs. Damit überschreitet sie die Schwelle von der traditionellen zur kritischen Technikgeschichte. Es handelt sich um einen begrüßenswerten Schritt, denn „zur wahren Technikgeschichte gehören auch die Fehlschläge“, wie Radkau und Bauer übereinstimmend festgestellt haben. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Teil der Geschichte technischer Verfahren, auf den man in der Darstellung auf keinen Fall verzichten sollte, sondern es ist oftmals sogar der interessantere Teil der Technikgeschichte. Silke Fenglers Buch bestätigt dies. Der Leser der Studie, aus eigener Erfahrung wohl wissend, dass es mit der traditionellen Fotografie zu Ende geht, zittert gewissermaßen mit, wenn er im Buch auf die sich seit den 1970er Jahren in den Leitungsgremien der Agfa AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen in gewissen Abständen wiederholenden Diskussionen darüber stößt, ob man – wie der Konkurrent Eastman Kodak – von der chemischen zur elektronischen Fotografie überwechseln oder dem weiteren Ausbau der Fotochemie den Vorzug geben sollte – und wenn er erfährt, dass die Entscheidungen so fallen, dass schließlich die Firmenkatastrophe unvermeidlich wird.
Eine moderne Technikgeschichte, wie man sie sich wünscht, ist Silke Fenglers Buch also. Aber es ist mehr – schon vom Anspruch her. Im Untertitel klassifiziert sie ihr Buch als „Unternehmens- und Technikgeschichte“. Beide Genre zu verbinden, darüber hat sich Radkau seitenlang beklagt, gelingt selten. „Die Technikgeschichte hat sich zu oft in ein geistiges Ghetto gesperrt“, beklagt Radkau (Radkau, S. 14).
Allerdings, eine Verbindung von Technikgeschichte und Unternehmensgeschichte, das ist auch für Sie, verehrtes Publikum, nachvollziehbar, wird im Falle Agfa schwierig, solange man ihr die am weitesten verbreitete Form – nämlich Firmenjubiläumsschriften – zu Grunde legt. Welche Firma war schon bereit, ihres vom Markt verdrängten Konkurrenten zu gedenken, auch wenn dieser einst noch so großartige Leistungen vollbracht hat und wenn man von ihm zeitweise profitierte. Im Falle der Geschichte der Agfa Betriebe von Wolfen und Leverkusen bietet sich da schon eher die eng mit der Unternehmensgeschichte verbundene Variante der Innovationsgeschichte an, ja sie scheint explizit geeignet, die Vorteile einer engen Verbindung von Technikgeschichte und Wirtschaftsgeschichte zu demonstrieren.
Die Innovationsgeschichte hatte in Deutschland einen gewaltigen Schub erhalten, als nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik die ostdeutschen Archive für die wissenschaftliche Nutzung freigegeben wurden und anhand der Akten der zuständigen „wirtschaftsleitenden Organe“ einen tiefen Einblick in die Entwicklungsprozesse von DDR-Betrieben gestatteten. Die insbesondere von Dietmar Petzina und Johannes Bähr vorangetriebenen Arbeiten verdichteten sich bald zu der Erkenntnis, dass sich die DDR-Betriebe, mit einigen Ausnahmen, gegenüber der bundesdeutschen Industrie in einem gravierenden Innovationsrückstand befunden haben (Fengler, S. 23, FN 68). Rasch wurde die entscheidende Ursache dafür ausgemacht: der fehlende Markt, die „künstlichen“ Preise in der DDR-Wirtschaft, die keine verlässlichen Informationen über Knappheiten bzw. über die Stellung zur Weltmarktkonkurrenz gestatteten sowie die Möglichkeit, in planwirtschaftlich abgegrenzten Absatzgebieten auch dann noch zu punkten, wenn die weltweite Entwicklung längst die Notwendigkeit, zu neuen Verfahren überzugehen, signalisiert.
In Silke Fenglers Buch finden sich, die Entwicklung des VEB Filmfabrik Wolfen betreffend, dazu genügend Hinweise. Doch die Autorin ist der Versuchung nicht erlegen, eine klassische Ost-West-Innovationsgeschichte zu schreiben, die den Erfolg von technischen Entwicklungen fast ausschließlich von den ordnungspolitischen Rahmenbedingungen abhängig macht – hier effiziente Marktwirtschaft, dort ineffiziente Planwirtschaft. Es spricht für ihre genaue Beobachtungsgabe und ihr kritisches Urteilsvermögen, wenn sie schreibt: „So gab es in der DDR durchaus Technologiebereiche, in denen Betriebe und Kombinate wettbewerbsfähige Technologien generierten. … Umgekehrt finden sich auch im marktwirtschaftlichen System der Bundesrepublik zahlreiche Beispiele, in denen einzelne Branchen und Unternehmen zu technologischen und ökonomischen Spitzenergebnissen nicht in der Lage waren.“ (Fengler, S. 24) Erst der in diesen zitierten Sätzen vollzogene Bruch mit dem neoliberalen Denkschema, dem sich die deutsche Wirtschaftsgeschichte seit Beginn der 1990er Jahre mehrheitlich unterworfen hat, ermöglichte es Silke Fengler den jüngsten Ansatz der Innovationsgeschichte für sich fruchtbar zu machen – die Theorie von der pfadabhängigen Entwicklung. Bezogen auf das Innovationsverhalten kann allein dies erklären, warum Firmen, die in der Experimentierphase das „dominant design“ entwickelt haben, nicht nur in der Expansionsphase und in der Ausreifungsphase an der vorherrschenden Produktionstechnologie festhielten, sondern auch in der Stagnations- und Rückbildungsphase, als neue Verfahren für jeden fachlich versierten Beobachter nachvollziehbar das bisherige „dominant design“ abzulösen begannen. Die Antwort lautet: Es sind die geringen aus den laufenden Gewinnen finanzierbaren Kosten der weiteren Vervollkommnung bisheriger Produkte verglichen mit den außerordentlich hohen Kosten, die eine Produkt- und Verfahrensumstellung erforderlich macht. Davor schreckten die Vorstandsmitglieder von Agfa Leverkusen ebenso zurück wie die Leiter der Filmfabrik Wolfen bzw. deren Vorgesetzte in den wirtschaftsleitenden Institutionen der DDR. „Obwohl oder gerade weil das Gesamtsystem der analogen Fotografie in den frühen achtziger Jahren einen hohen Ausreifungsgrad erreicht hatte“, schreibt Silke Fengler, „band es auf betrieblicher Ebene alle Kräfte. Letztlich konnten die Anstrengungen zur Optimierung des klassischen Systems nicht verhindern, dass beide Seiten im technologischen und ökonomischen Wettbewerb zurückfielen.“(Fengler, S. 20)
Zu diesem Ergebnis hätte Silke Fengler ohne den von ihr sorgfältig ausgewählten Ansatz nicht kommen können. Hätte sie sich nicht vom Mainstream-Ansatz der Innovationsgeschichte entfernt, wäre eine wissenschaftlich befriedigende Erklärung der Tatsache, dass die bedeutendsten Produzenten fotochemischer Produkte in Ost wie West Ende des 20. bzw. Anfang des 21. Jahrhunderts fast zeitgleich vor dem Aus standen, nicht möglich gewesen.
Wer gegen vorherrschende Auffassungen verstößt, auf die sich die „scientific community“ geeinigt hat, muss mit heftigem Widerspruch rechnen. Am besten wappnet sich die/der betroffene Wissenschaftler/in dagegen durch sorgfältige Ausführung ihrer/seiner Studie. In dieser Hinsicht hat Silke Fengler nichts außer acht gelassen – angefangen vom intensiven Studium der ihre Thematik behandelnden deutschen und angelsächsischen Literatur einschließlich der „grauen“ Literatur der Firmenschriften. Sie hat sich in den Unternehmensarchiven der Agfa AG Leverkusen, im historischen Archiv der Agfa-Gevaert und im Betriebsarchiv der Filmfabrik Wolfen, aber auch im Wirtschaftsarchiv der Universität Köln und im Bundesarchiv Koblenz mit den relevanten Akten bekannt gemacht. Und sie hat sehr gründlich darüber nachgedacht, welche Vergleichskategorien in Frage kommen, wenn sie die wirtschaftliche Entwicklung – Erfolge wie Misserfolge – eines in die Planwirtschaft eingebundenen VEB und eines in die Marktwirtschaft eingebetteten Konzernbetriebes gegenüberstellen wollte. Die allgemein üblichen Kriterien für derartige Betriebsvergleiche in der Marktwirtschaft – Gewinnentwicklung und Börsennotierung – entfielen in diesem Falle ja von vornherein. Produktionsmengen- und Umsatzentwicklung kommen da schon eher in Frage. Besonders kompliziert erwies sich der Vergleich der technologischen Leistungsfähigkeit. Silke Fengler schreibt dazu: „Um ein annähernd realistisches Bild zu erhalten, wurden mithilfe von Einschätzungen in west- und ostdeutschen sowie internationalen Fachzeitschriften Weltstandsvergleiche der Wolfener Materialien vorgenommen“ (Fengler, S. 21).
Silke Fengler hat mit ihrer Studie viel Mut und Selbstbewusstsein bewiesen. Aber sie stand nicht allein. Sie fand verständnisvolle Förderer an der Philosophischen Fakultät der Rheinisch-westfälischen Technischen Hochschule Aachen, wo sie mit dem von ihr gewählten Thema promovieren konnte, und in den Mitarbeitern des im Ruhrgebiet beheimateten „Arbeitskreises für Kritische Unternehmens- und Industriegeschichte“ – um nur diese beiden zu nennen.
Ich fasse zusammen: Wir haben es bei Silke Fenglers Studie mit einer wirtschaftshistorischen Publikation zu tun, die technikgeschichtliche und unternehmensgeschichtliche Analyse miteinander verbindet, dabei jeweils die moderneren Untersuchungsmethoden anwendet und dabei auf die faktenmäßige Fundierung, auf die sorgfältige Ausführung, außerordentlichen Wert legt. Ihr Buch ist auf wirtschaftshistorischem Gebiet eine Pioniertat. Es regt zur Nachahmung an. Die Zahl der 1945 bis 1990 zwischen Ost und Westdeutschland, zwischen Plan- und Marktwirtschaft geteilten Konzernbetriebe ist zahlreich gewesen. Zeiss Oberkochen und Zeiss Jena sind dafür nur ein – wenn auch prominentes – Beispiel.
Linz, 9.9.2010
Festvortrag von Silke Fengler
Sehr geehrte Mitglieder der Jury, meine sehr verehrten Damen und Herren!
Obwohl als Festrednerin gänzlich ungeübt, möchte ich mich gleichwohl ganz herzlich für die Zuerkennung des diesjährigen René Kuczynski-Preises bedanken. Die Nachricht kam für mich überraschend, doch umso größer ist die Freude und Dankbarkeit, diese ehrenvolle Anerkennung für meine wissenschaftliche Arbeit zu bekommen. In meinem heutigen Festvortrag werde ich Ihnen einige zentrale Thesen des Buches kurz vorstellen, dem die Auszeichnung gilt. Sein Titel spielt mit dem fotochemischen Vokabular, doch keine Sorge: Sie werden von mir heute keine technischen Details zu hören bekommen! Bevor ich aber in medias res gehe, möchte ich Ihnen kurz erzählen, wie ich überhaupt zu meinem Forschungsthema kam.
Als ich vor sieben Jahren begann, mich mit der Geschichte der deutschen Fotoindustrie eingehender zu befassen, hatte ich vom historischen Potenzial des Themas nur sehr vage Vorstellungen. Als gelernte Wirtschaftshistorikerin, die dabei war in die Technikgeschichte zu emigrieren, war ich auf der Suche nach einem Forschungsgegenstand, der beide Zugänge interdisziplinär miteinander verbindet. Und ich interessierte mich für einen Stoff, der sich mit dem methodischen Instrumentarium der modernen Unternehmensgeschichte bearbeiten ließ. Ich arbeitete damals an der RWTH Aachen, ganz im Westen Deutschlands. Das Aachener Revier hat selbst ein reiches textil- und montanindustrielles Erbe, doch mein Forschungsinteresse galt der fotochemischen Industrie. Ich sollte hier vielleicht erwähnen, dass mir als ausgesprochener ‘Westpflanze’ die Geschichte und Gegenwart der einstigen DDR damals gedanklich ungefähr so fern lag, wie Napoleon der Weg nach Moskau. Aufgewachsen im Süden der alten Bundesrepublik, durch das volkswirtschaftliche Studium an der Universität Köln auf die ‘reine Lehre’ der neoklassischen Modellwelt getrimmt, war mein Blick auf die deutsche und europäische Wirtschaftsgeschichte – bewusst oder unbewusst – auf das mir bekannte politisch-wirtschaftliche System Westdeutschlands ausgerichtet. Von Aachen aus war es mit diesem Rüstzeug im Gepäck – auch geographisch gesehen – ein kurzer Weg nach Köln und ins Bayer-Archiv Leverkusen. Ich musste bald ernüchtert feststellen, dass das nahe Liegende nicht immer auch das Ziel führende ist. Das in Leverkusen vorgefundene Archivmaterial zur Geschichte von Agfa Leverkusen war so dünn, dass ich meinen Fokus zwangsläufig erweitern musste, um einen unternehmensgeschichtlich interessanten Ansatz zu finden. Mir waren die Stichworte ‚ORWO‘, ‚Filmfabrik Wolfen‘ und ‚IG Farben‘ in Zusammenhang mit Agfa in der Literatur verschiedentlich begegnet, doch ich schob diesen für mein Projekt vermeintlich unbedeutenden Seitenast immer wieder achtlos zur Seite. Irgendwann fuhr ich doch nach Wolfen, einen kleinen Ort mitten im sachsen-anhaltinischen Chemiedreieck Bitterfeld. Und ich fand im Archiv des dortigen Industrie- und Filmmuseums derart reichhaltiges Material, dass ich beschloss, meinen ursprünglichen Kurs zu ändern. Allerdings stellte sich die Frage umso dringlicher: Wie kann ich etwas zusammen denken, was oberflächlich betrachtet, so gar nicht zusammen gehört? Hier ein im internationalen Wettbewerb stehendes, als Marken-Hersteller im Westen wohl bekanntes und vor allem noch existierendes Unternehmen, dort ein abgewickelter, allenfalls einem fotografischen Fachpublikum und natürlich den meisten DDR-Bürgern bekannter volkseigener Betrieb. Doch je mehr Dokumente ich las, je tiefer ich eindrang in die mir bis dahin fremde Welt der Fotografie und des Wirtschafts- und Gesellschafts-systems der DDR, desto mehr ‚wuchs‘ in meiner Vorstellung ‚zusammen, was zusammengehört‘.
Es geht um die Geschichte eines nach dem Zweiten Weltkrieg geteilten Unternehmens. Die Agfa AG Leverkusen, das zugehörige Agfa-Camerawerk in München und der Volkseigene Betrieb Filmfabrik Wolfen (bzw. das spätere Fotochemische Kombinat Wolfen) sind Nachfolger des 1945 durch die Alliierten zerschlagenen IG Farben-Konzerns. Beide Seiten entwickelten sich unter gänzlich unterschiedlichen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen erstaunlich parallel, sowohl in wirtschaftlicher wie in technischer Hinsicht: Sie zählten auf den von ihnen bearbeiteten Märkten in West- und Osteuropa Jahrzehnte zu den führenden Anbietern, und sie gaben der analogen Fotografie zu unterschiedlichen Zeiten wichtige Impulse. Leverkusen und Wolfen waren die jeweils bedeutendsten Produktionsstandorte der west- und ostdeutschen Fotoindustrie. Hier wie dort spielte der Export eine entscheidende Rolle. Im wiedervereinigten Deutschland erlebte zuerst die ostdeutsche Fotoindustrie einen beispiellosen Niedergang. Die Filmfabrik Wolfen war als Stammbetrieb des Fotochemischen Kombinats bis 1990 einer der größten Arbeitgeber in der mitteldeutschen Chemieindustrie. Die ‚Fabrik der Frauen‘, der als einer der wenigen Betriebe/Kombinate der DDR auch eine Frau vorstand, beschäftigte 1989 15.500 Mitarbeiter/innen. Zwei Jahre später war die Belegschaft auf 750 Personen geschrumpft. Die Nachfolgeunternehmen der einstigen Filmfabrik gingen nach gescheiterter Sanierung Ende der 1990er Jahre in Konkurs. Heute arbeiten in der zum Museum umgebauten Filmfabrik gerade einmal fünf (!) Personen. Agfa Photo, die westdeutsche Schwester der Wolfener Filmfabrik, ereilte mit wenigen Jahren Verzögerung ein ähnliches Schicksal. Kurz nach der Ausgliederung aus dem deutsch-belgischen Konzern Agfa-Gevaert AG musste das Unternehmen im Frühjahr 2005 Insolvenz anmelden. Ein Studienfreund, mit dem ich in Köln Wirtschaft studiert hatte, war als Personalverantwortlicher im Leverkusener Stammhaus von Agfa damit beschäftigt, den verbliebenen 1.800 Mitarbeitern Kündigungen auszusprechen. Er war sprichwörtlich einer der Letzten, die beim Verlassen der fast leeren Fabrikgebäude das Licht ausmachten.
Als Zeithistorikerin interessiere ich mich für die Ursachen und die geschichtlichen Hintergründe von Entwicklungen, die bis in die Jetztzeit hineinreichen. Wie lässt sich die hier angedeutete, paradoxe Entwicklung vom Marktführer und Exportstar zum Insolvenzfall erklären? Gibt es tiefer liegende Parallelen zwischen Ost und West? Und wenn ja, wie lassen sie sich historisch begründen? Das Beispiel des geteilten Unternehmens Agfa erscheint auch deshalb interessant, weil sich mit seiner Geschichte ein zeitlicher Bogen von fast 130 Jahren spannen lässt. Dabei werden die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verwerfungen in Deutschland, Teilen Europas und der Welt während des 20. Jahrhunderts wie unter einem Brennglas sichtbar.
Nachdem sich die Archive der einstigen DDR in den 1990er Jahren für die Forschung geöffnet hatten, erschien eine Vielzahl von Monografien und Aufsätzen zur Wirtschaftsgeschichte der DDR. Diese Literatur fokussierte meist auf die Branchenebene und sie kam zum Ergebnis, dass strukturelle, d.h. im planwirtschaftli-chen System liegende Gründe für die Innovationsschwäche der DDR-Wirtschaft und ihren Zusammenbruch verantwortlich waren. Die bundesdeutsche Industrie bildete als vermeintlich erfolgreiches Gegenstück das bevorzugte Vergleichsobjekt vieler Studien. Nur selten ging es um den einzelnen DDR-Betrieb, der als ‚Filiale des Staates‘ zweifelsohne geringere strategische Entscheidungskompetenzen hatte, als die Vorstände vieler westdeutscher Unternehmen. Die Unternehmensgeschichte im deutschsprachigen Raum macht um die Geschichte von DDR-Betrieben vielleicht auch deshalb bis heute einen großen Bogen. Doch auch der Aspekt des Scheiterns von Unternehmen, das in marktwirtschaftlichen Systemen allgegenwärtig ist, wurde lange vernachlässigt. Dieses Zerrbild ein Stück weit aufzulösen, ist ein Anliegen meines Buches. Dabei wollte ich den Einfluss des wirtschaftlich-politischen Systems auf die Innovationsfähigkeit von Unternehmen und Betrieben keineswegs außer Acht zu lassen. Doch mich interessierte mehr, welche anderen, vielleicht nur historisch erklärbaren Gründe das Scheitern auf der Mikroebene von Unternehmen und Betrieb haben kann.
Ökonomen denken in Modellen. Ihr Wunsch, die Komplexität der Welt auf wenige, möglichst mathematisch darstellbare Formeln zu reduzieren, ist Historikern für gewöhnlich ein Gräuel. Doch in meinem Falle erwies sich ein Theoriegeleitetes Arbeiten als hilfreich. Das Modell der Pfadabhängigkeit, von amerikanischen Evolutionsökonomen in den frühen 1980er Jahre entwickelt, war besonders gut geeignet, um die komplexen Strukturen meines geteilten Unternehmens gedanklich zu entwirren und die Dynamik der Entwicklungen in Ost und West im wechselseitigen Bezug zu einander zu erklären. Agfa ist bei weitem nicht das einzige Unternehmen, das nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt wurde. Carl Zeiss in Jena und Stuttgart-Oberkochen ist ein anderes, prominentes Beispiel. Diese geteilten Unternehmen entwickelten sich – ähnlich wie die Gesamtwirtschaft – erst mit der Zeit auseinander. An die Stelle alter traten neue arbeitsteilige Industriestrukturen, welche die Unternehmen und Betriebe immer stärker in das jeweilige institutionelle System einbanden. Historisch gewachsene Gemeinsamkeiten überdauerten jedoch die strukturellen Veränderungen: Diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs folgten Betrieb und Unternehmen bestimmten, weit in die Vergangenheit zurückreichenden Ent-wicklungspfaden. Die pfadabhängigen Prozesse prägten das Ergebnis unternehmerischer bzw. betrieblicher Entwicklung offenbar weit stärker als die politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen, die sich vor allem auf die Effizienz der wirtschaftlichen Aktivität auswirkten. Dies wird durch eine 2006 publizierte Studie bestätigt, die das Output wissenschaftlich-technischer Publikationen und die Patentportfolios in der BRD und DDR miteinander verglichen hat. Sie zeigt, dass Forschung und Entwicklung in beiden deutschen Staaten ähnlich ausgerichtet waren. Beide waren auf ähnlichen Gebieten stark und zeigten in anderen Bereichen die gleichen Schwächen.
Unternehmen und Betriebe folgen, den Erfordernissen des jeweiligen Systems ent-sprechend, unterschiedlichen Handlungslogiken: Gewinnorientierung und markt-wirtschaftlicher Wettbewerb bestimmte die Strategie bundesdeutscher Unternehmen, die Erfüllung des Plansolls unter den Bedingungen der staatlichen Planwirtschaft den Handlungsrahmen der DDR-Betriebe. Wie das Beispiel Agfa zeigt, erwies sich pfadabhängiges Verhalten aber in beiden Systemen gleichermaßen als vorteilhaft. Hier wie dort konnte das in der gemeinsamen Vergangenheit akkumulierte Erfahrungswissen nutzbar gemacht werden, um unter den widrigen Bedingungen der Nachkriegszeit das Erbe der alten Agfa anzutreten. Diese hatte in der Zwischenkriegszeit den deutschen Fotomarkt und weite Teile des europäischen Fotomarktes beherrscht. Der Vorstand von Agfa Leverkusen knüpfte ganz bewusst an Verfahren und Technologien aus der Zwischenkriegszeit an. Zudem profitierte das Leverkusener Werk vom engen Verbund mit den Farbenfabriken Bayer und der Arbeitsteilung mit dem Wolfener Werk. Auch im Vertrieb blieb man dem Konzept der 1920er Jahre treu, dem Kunden alles aus einer Hand zu bieten, vom Film, über Fotopapier und Kamera bis hin zur Entwicklungsdienstleistung. Zwar kann man im Fall der Filmfabrik Wolfen nicht von der autonomen Wahl einer pfadabhängigen Strategie sprechen. Wolfen wurde aber auf ähnlicher Grundlage wie die westdeutsche Schwester – den Technologien und Verfahren der Zwischenkriegszeit sowie der fortgesetzten Kooperation mit Leverkusen – rasch zum größten Filmproduzenten der DDR. Die Filmfabrik, die im zukunftsträchtigen Farbfilmbereich Anfang der 1950er Jahre technologisch zur Weltspitze zählte, exportierte hauptsächlich in die Sowjetunion, sie entwickelte sich aber auch in der Bundesrepublik zu einem Konkurrenten für den Leverkusener Schwesterbetrieb. Fehlende Anlageinvestitionen, die Abwanderung technischen Personals und die von politischer Seite forcierte Umstellung auf heimische Rohstoffe führten allerdings dazu, dass der Vorsprung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre verloren ging.
Der einmal eingeschlagene technologische Entwicklungspfad bei Agfa Ost und West verfestigte sich seit den 1960er Jahren zusehends. Die Ursachen, weshalb knappe Forschungs- und Entwicklungsressourcen hier wie dort auf die Weiterentwicklung überkommener anstelle innovativer Technologien fokussiert wurden, sind komplex. Ich möchte zwei Gründe herausgreifen, die mir wesentlich erscheinen, und die mit der wachsenden internationalen Verflechtung der einstigen Agfa-Schwestern zu tun haben: Bei Agfa-Gevaert Leverkusen wurde der Spielraum durch unternehmensinterne Blockaden begrenzt, die sich im Zuge der Fusion mit dem belgischen Fotochemiekonzern Gevaert auftaten. Im Fall Wolfens waren es die Export- und Kooperationsverpflichtungen gegenüber den RGW-Staaten, allen voran der Sowjetunion, die einen autonomen Pfadwechsel praktisch unmöglich machten. Als beide Seiten fast zeitgleich Ende der 1970er Jahre begannen, im strategisch wichtigen Farbfilmbereich Anschluss an den technologischen Stand der Zeit zu suchen, geschah dies unter erschwerten Bedingungen. Agfa-Gevaert Leverkusen gelang dies nur, weil es auf die finanzielle Unterstützung der wirtschaftlich potenten Konzernmutter Bayer zählen konnte. In der bereits in vollem Niedergang befindlichen DDR-Gesamtwirtschaft fehlten schlicht die notwendigen Mittel, um den Pfadwechsel in einem überschaubaren Zeitraum zu vollziehen. Er blieb Stückwerk und fand mit der politischen Wende 1989 ein abruptes Ende.
1981, also just zu dem Zeitpunkt, als man in Leverkusen und Wolfen den Rückstand im fotochemischen Bereich aufzuholen begann, stellte der japanische Unterhaltungs-elektronikhersteller Sony den Prototyp einer Digitalkamera vor. Es bedeutete eine technologische Zeitenwende. Agfa-Gevaert Leverkusen und das Fotochemische Kombinat Wolfen vollzogen den Paradigmenwechsel von der analogen Fotografie zur digitalen allerdings nicht mehr. In Leverkusen und Wolfen konzentrierte man alle vorhandenen Kräfte darauf, innerhalb des Paradigmas der analogen Fotografie einen Pfadwechsel vorzunehmen. Selbst wenn man es gewollt hätte, hätten die Ressourcen gefehlt, um parallel in ein völlig neues Technologiefeld hineinzuwachsen. Eine stärkere Fokussierung auf fotophysikalische und mikroelektronische Forschung war zudem weder mit den fotochemischen Interessen der Konzernmutter Bayer (im Fall von Agfa-Gevaert Leverkusen) zu vereinbaren, noch mit den Produktionsvorgaben des federführenden Ministeriums für Chemische Indust-rie der DDR (im Fall des Fotochemischen Kombinates). Der eingangs beschriebene Niedergang der einstigen Agfa-Schwestern am Ende des 20. Jahrhunderts kann auch als Folge dieses nicht vollzogenen Paradigmenwechsels gelesen werden. Ihr Schicksal ist indes kein Einzelfall. Wie wenig die Branche insgesamt der digitalen Fototechnik entgegenzusetzen hatte, zeigt sich am allmählichen Verschwinden der traditionellen Fotochemieindustrie. Diese Entwicklung ist bis heute noch nicht ab-geschlossen und lässt sich weltweit beobachten.
Ich bin am Ende meiner Ausführungen angelangt. Sie kreisten um das Thema, welche Folgen das Festhalten an Überkommenem im wirtschaftlichen Kontext haben kann. Ich war zu Beginn meiner Forschungsarbeit, die in diesem Buch mündeten, selbst auch gefangen in einigen gängigen Klischees, was die Wirtschaftsgeschichte der DDR, der BRD und den Stoff für eine interessante Unternehmensgeschichte betrifft. Oder, um es mit den Worten des Stifters dieses Preises, Jürgen Kuczynski, zu sagen: „In vielerlei Hinsicht glich ich mehr einem Gläubigen als einem Wissenschaftler, ohne mir das je eingestanden zu haben.“ Kuczynski schrieb diese Worte 1983 als Antwort auf die fiktiven Fragen seines Urenkels Robert zur Politik, Wirtschaft und politischen Kultur der DDR, und er nahm damit Bezug auf seine eigene Rolle während der Stalinzeit. Man mag seine Feststellung als Versuch des ‘linientreuen Dissidenten’ werten, Kritik an den damals herrschenden Verhältnissen zu üben. Doch ich denke, man kann ihn auch anders verstehen: Es geht darum, sich der eigenen gedanklichen Position bewusst zu werden und sie mit kritischer Distanz zu betrachten. Dass ich selbst Gelegenheit hatte, meine historisch gewachsenen Vorstellungen ein Stück weit zu revidieren, war eine bereichernde Erfahrung. Sie öffnete den Blick auf eine Thematik, die ihrem Wesen nach weit über die Fotoindustrie als einer typischen Vertreterin deutscher Industrietradition hinausgeht. Es geht auch um eine neue Perspektive auf das deutsch-deutsche Verhältnis, und dessen Erweiterung um eine europäische Dimension.
Linz, 9.9.2010