René-Kuczynski-Preis 2009
an Marcel van der Linden für sein Buch:
Workers of the World: Essays toward a Global Labor History (Studies in Global Social History vol. 1)
Leiden: Brill Publishers 2008, 469 Seiten, ISBN 978-90-04-166837

Die Jury des Vereins zur Vergabe des René Kuczynksi Preises hat als Preisträger für 2009 Amsterdamer Historiker Marcel van der Linden nominiert.

Die Preisverleihung fand im Rahmen der Eröffnungsfeier der 45. Linzer Konferenz der ITH am 10. September 2009 im Jägermayrhof statt.

Prof. Dr. Dr. h.c. Marcel van der Linden
Jahrgang 1952, ist Direktor der Forschungsabteilung des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, Professor für die Geschichte sozialer Bewegungen an der Universität Amsterdam und Herausgeber der International Review of Social History.
Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der internationalen Arbeiter(bewegungen) und Ideengeschichte. Er Verfasser bzw. Herausgeber zahlreiche rBücher, darunter: The End of Labour History (Cambridge 1993), New Methods for Social History (Cambridge 1998), Social Security Mutualism (Bern 1996) und Transnational Labour History. Explorations (Aldershot 2003). Seine Werke erschienen auf Englisch, Holländisch, Deutsch, Französisch, Dänisch, Schwedisch, Spanisch, Russisch, Portugiesisch und Japanisch.

Jury
Univ.-Prof. Dr. Gerhard Botz (Institut für Zeitgeschichte der Univ. Wien)
Univ.- Prof. Dr. Josef Ehmer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Univ. Wien)
Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann (Berlin)
Prof. Dr. Jörg Roesler (Berlin)
Prof. Dr. Claudia Ulbrich (Friedrich-Meinecke-Institut, Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der FU Berlin)
Univ.-Doz. Dr. Berthold Unfried (ITH & Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Univ. Wien)

 

Laudatio von Berthold Unfried

Laudatio von Berthold Unfried, Wien, anlässlich der Verleihung des René Kuczynski-Preises 2009 an Marcel van der Linden

Das Buch ist eine Art Summe von van der Lindens langjährigen Überlegungen und empirischen Studien zu einer durch eine globale Sichtweise erneuerten Geschichte der Arbeit und der Arbeiter und Arbeiterinnen. Der Band enthält zum Teil schon publizierte und zum Teil neu geschriebene Beiträge, die ein kohärentes Ganzes ergeben. Van der Lindens Anliegen ist die Entwicklung eines Forschungsfelds Global Labour History. Der Autor will folgende Neuerungen mit seinen Konzeptualisierungen erreichen: eine Überwindung des Eurozentrismus und des methodologischen Nationalismus, die dazu beigetragen haben, die „alte“ Arbeitergeschichte – und damit ist die New Labour history der 1980er und 1990er gemeint – in die Isolierung zu führen. Die Beschränkung auf den Nationalstaat war natürlich nicht nur eine geistige Beschränktheit der Protagonisten dieser Arbeitergeschichte – immerhin war die organisierte Arbeiterbewegung in Europa im Rahmen des Nationalstaats zu Einfluss gekommen und nicht durch transnationale Organisierungsformen. Der Eurozentrismus hatte also eine Grundlage in der europäischen Wirklichkeit. Von Eurozentrismus geprägt sind die grundlegenden Konzepte von Arbeit, Lohnarbeit und von Arbeiterklasse, von denen nähere Forschung bald zeigt, dass sie nicht problemlos globalisiert werden können. Vielmehr entsprechen die Arbeitsverhältnisse im globalen „Süden“ nicht diesen Konzepten. Van der Linden antwortet darauf mit einer sehr weiten Fassung des Begriffs „Arbeit“. Er umfasst bei ihm neben der Lohnarbeit auch Formen „unfreier“ Arbeit, von gebundener Vertragsarbeit bis hin zur Sklaverei. Er umfasst bezahlte wie unbezahlte Arbeit, also auch Arbeit im Rahmen der Subsistenzproduktion und Hausarbeit, Arbeit im industriellen wie im agrarischen Umfeld.

Der Einwand liegt nahe: Überspannt van der Linden hier den Begriff der Arbeit, sodass er diffus wird und sich in andere Formen menschlicher Tätigkeit auflöst? Wo ist die Grenze zwischen „Arbeit“ und anderer menschlicher schöpferischer Tätigkeit? Wie sieht denn die „Arbeiterklasse“ als globales Forschungsobjekt aus? Wie kann Labour history als eigenes Feld abgesteckt werden?
Das sind Fragen, deren Diskussion Voraussetzung für eine Definierung des Forschungsfelds „Arbeit“ ist. Mir scheint der Vorteil zu überwiegen, dass solche weiten Konzeptionen von „Arbeit“ den Weg öffnen für eine umfassende Sozialgeschichte menschlicher Tätigkeit. Das Feld der Arbeitergeschichte erneuern, indem man es verbreitert in das weitere Feld der Sozialgeschichte hinein; die Arbeitergeschichte auflösen und aus dem plastischen Material neu backen, das scheint mir das Konzept des Buchs.

In jedem Fall regt das zum Denken an. Das Buch erhebt nicht den Anspruch, fertige Ergebnisse zu liefern, sondern mögliche Neuorientierungen zur Diskussion zu stellen. Darin ist die ITH by the way Wegbegleiterin. Wir suchen ja auch nach Wegen, Arbeitergeschichte zu erneuern und in die internationale Diskussion einzubringen.
Methodologischer Nationalismus: Darunter versteht van der Linden die Beschränkung der Forschung auf den Rahmen des Nationalstaats. Der Nationalstaat muss als europäisches Phänomen des 19. und 20.Jh. betrachtet werden, als vergängliches Zwischenergebnis historischer Entwicklung und nicht als Endprodukt der Weltgeschichte. Das mag uns evident erscheinen, aber wenn das ernst genommen wird, hat das weit reichende Konsequenzen: Kann man von einer Gesellschaft sprechen, die dem Rahmen des Nationalstaats kongruent ist? Wenn wir den Blick außerhalb Europas richten, wird bald klar, dass dieses unausgesprochene Konzept nicht gut anwendbar ist. Etwa in Lateinamerika. Eine guatemaltekische, eine ecuadorianische Gesellschaft? Jeder, der diese Länder kennt, wird nicht davon ausgehen. Es gibt dort vielmehr viele Gesellschaften, die wenig miteinander verbunden sind.

Eurozentrisch sind auch alle Konzeptionen von Entwicklung, die implizit die europäische Variante der Entwicklung als den Pfad ansehen, den alle anderen Zivilisationen dieser Erde einzuschlagen hätten, um zu zivilisierten Zuständen, zu Wirtschaftswachstum und Wohlstand, oder auch zum Sozialismus zu gelangen. Etwa die Modernisierungstheorien in allen ihren Varianten, wie sie auch von Teilen der europäischen Arbeiterbewegung vertreten wurde. Konzeptionen wie Modernisierungstheorien und marxistisch inspirierte Theorien vom Fortschritt der gesellschaftlichen Entwicklung teilen diese Grundannahmen.

Eine Hauptfrage des Buches ist, wie verwandte Diziplinen für die Global Labour History nutzbar gemacht werden können? Was kann von Sozialanthropologen, Soziologen und anderen Sozialwissenschaftlerinnen gelernt und übernommen werden? Einer von vier Teilen des Buches beschäftigt sich damit und thematisiert Beiträge der Weltssystemtheorie, der Debatte über die Verflechtung verschiedener Arbeitsformen und der Ethnologie, für eine globale Geschichte der Arbeit. Das Konzept von Global Labour History, das der Autor in seinem Buch entwickelt, bezieht Disziplinen, Themen und Diskussionszusammenhänge ein, die heute spontan nicht unbedingt mit Labour history verbunden werden: die Bielefelder Schule der Entwicklungssoziologie etwa mit ihren Arbeiten zur Verflechtung von Lohnarbeit und von Subsistenzarbeit, die das Überleben sichert. Dieser fruchtbaren Denkfabrik der 1970er bis zu Beginn der 1990er Jahre ist ein Kapitel gewidmet.
In ihren empirischen Studien richteten die „Bielefelder“ den Blick auf Haushalte in Afrika und Asien und fanden vielfältige Verflechtungen zwischen Subsistenzarbeit, also der Produktion für den eigenen Gebrauch, und marktorientierter Lohnarbeit. Subsistenzarbeit ist notwendig für die Reproduktion von Lohnarbeit. Dadurch rückt unter Anderem die Hausarbeit in den Blickpunkt des Forschungsfelds „Arbeit“.
Die Bielefelder zeichneten sich durch einen Zugang aus, der mitgebrachte Konzeptualisierungen nicht auf das empirische Material überzustülpen versuchte; sondern der im Gegenteil versuchte, neue Konzeptualisierungen zu entwickeln, die der vorgefundenen Situation angepasst waren. Die so entwickelten Begriffe – neben „Subsistenz“ etwa jener der „strategischen Gruppen“, der „Klasse“ ersetzen sollte – waren vieldeutig und unscharf, sie oszillierten über die Jahre in ihrem Gebrauch. Das war Ausdruck des Versuchs, das heterogene empirische Material in den Griff zu bekommen. Aber diese Konzeptualisierungsversuche brachten in all ihrer Anfechtbarkeit oder gerade deswegen lang anhaltende und fruchtbare Diskussionen in Gang.

Mit dem Blick eines Sozialanthropologen/Ethnologen hat van der Linden ein Kapitel geschrieben, das man in diesem Zusammenhang auch nicht unbedingt erwartet hätte: „The Iatmul experience“. Der Preisträger wird uns vielleicht selber erzählen, wie er zum Studium dieser Ethnie, der Iatmul in Papua-Neuguinea gekommen ist. Er verfolgt anhand ethnographischen Materials die Einbeziehung dieses Territoriums und seiner Einwohner in das Weltsystem seit der australischen Mandatszeit in den 1920er Jahren. Den Link zur Labour history stellt er über die Einführung von Vertragsarbeit und die sukzessive Entstehung eines Arbeitsmarkts in Papua-Neuguinea seit den 1960er Jahren her, die zu einer ausgedehnten Arbeitsmigration führten. In den 1980ern griff die Lohnarbeit auch auf den weiblichen Teil der Iatmul-Bevölkerung über. Das brachte neue Abgrenzungen der Geschlechter-Arbeitsteilung mit sich.

Die Geschichte der Arbeit ist ein weites Feld und sie birgt große Möglichkeiten für unterschiedliche Zugänge. Der Labour historian kann sich auch anhand der Iatmul betätigen und historische Quellenstudien und die Analyse vorliegenden ethnographischen Materials mit eigener teilnehmender Beobachtung kombinieren. Er kann Studien zum Arbeitsmarkt in Papua-Neuguinea auswerten sowie Berichte und Evaluierungen von Entwicklungsprojekten. Er kann sich in die scientific communities der Sozialanthropologen, der Entwicklungsforscher, der Migrationsforscherinnen und der entsprechenden area studies einklinken. Das alles bedeutet heute Labour history. Das ist die Botschaft des Buches, die uns Sozial- und Arbeiterhistoriker anspricht. Der Autor hat wagemutige Schritte in neues Land gesetzt. Deswegen haben wir – die Jury des Kuczynski-Preises – Marcel van der Linden den Preis verliehen.

Linz, 10.9.2009

Dankworte von Marcel van der Linden

Die Verleihung des René-Kuczynski-Preises für mein Buch Workers of the World hat mich überrascht, aber auch sehr glücklich gemacht. Überrascht war ich, weil Workers of the World eine Sammlung von Aufsätzen ist, die zwar zusammenhängen, aber trotzdem keine Monographie bilden. Glücklich hat mich die Verleihung gemacht, weil dadurch deutlich wird, dass die sogenannte Global Labor History nun auch im deutschen Sprachraum anfängt, den Stellenwert zu erobern, den sie verdient. Die Geschichte der Arbeit – ich verwende diese Bezeichnung hier in einem weiten Sinne unter Einschluss der Geschichte der Arbeiterklasse – ist über lange Zeit hauptsächlich in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern (sowie, mit einem eingegrenzteren politischen Fokus, in den so genannten sozialistischen Ländern) untersucht worden. Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts jedoch hat sich diese Fachrichtung zu einem wahrhaft globalen Projekt entwickelt.

Der eigentliche Durchbruch in Form von Konferenzen, Assoziationen usw. ist sehr jungen Datums. Er begann 1995 mit der Gründung der Association of Indian Labour Historians (Vereinigung indischer Arbeitshistoriker), einer dynamischen Organisation, die nicht nur alle zwei Jahre Konferenzen ausrichtet, sondern in zahlreichen weiteren Aktivitäten engagiert ist. Bald darauf wurde Mundos do Trabalho (Welten der Arbeit) eingerichtet, ein Netzwerk für Geschichte der Arbeit innerhalb des brasilianischen Historikerverbands ANPUH. Erste Konferenzen fanden statt in Karachi (1999), Seoul (2001), Jogjakarta (2005) und Johannesburg (2006). Diese geographische Ausweitung und die grundlegenden Überlegungen, die aus ihr folgten, ermöglichen es uns, sowohl die traditionelle ArbeiterInnengeschichte (wie „modern“ sie in vielerlei Hinsicht auch sein mag) in neuem Licht zu sehen.

Das im 19. Jahrhundert entstandene Feld der Geschichte der Arbeit in Europa und Nordamerika hat sich von Anfang an ausgezeichnet durch eine Verbindung aus „methodologischem Nationalismus“ und Eurozentrismus. Der methodologische Nationalismus verknüpft Gesellschaft mit dem Staat und betrachtet die einzelnen Nationalstaaten folglich für die historiographische Forschung als eine Art „Leibnizscher Monaden“. Eurozentrismus ist die Ordnung der Welt vom Blickpunkt der nordatlantischen Region aus: In dieser Sichtweise beginnt die „Moderne“ in Europa und Nordamerika und weitet sich Schritt für Schritt auf den Rest der Welt aus. Die Temporalität dieser „Kernregion“ bestimmt die Periodisierung von Enwicklungen in der restlichen Welt. Die Historiographie hat dementsprechend die Geschichte der arbeitenden Klassen und der Arbeiterbewegungen in Frankreich, Großbritannien, den Vereinigten Staaten usw. als je voneinander unterschiedene Entwicklungen beschrieben. Wo sich die Aufmerksamkeit auf die sozialen Klassen und Bewegungen in Lateinamerika, Afrika oder Asien richtete, wurden diese nach nordatlantischen Schemata interpretiert.

Erst in den letzten Jahrzehnten ist die eurozentrische Monadenlehre in ihrer Gesamtheit in Frage gestellt worden. Dies hängt mit einer Reihe von Veränderungen zusammen, die seit dem Zweiten Weltkrieg auftraten, jedoch teilweise auch schon früher begonnen hatten:
• Die Dekolonisierung schuf zahlreiche neue, unabhängige Staaten, insbesondere in Afrika und Asien, die mit der Erforschung ihrer eigenen Sozialgeschichte begannen. Auf diese Weise gewann die Geschichte der Arbeit nicht nur eine „periphere“ Komponente (was bedeutet, dass die Zahl der Monaden zunahm), deren Bedeutung stieg. Außerdem wurde es deutlich, dass die Geschichte der Peripherie nicht geschrieben werden konnte, ohne ständig auf die Geschichte der Metropolen zu verweisen (siehe z.B. das Werk von Walter Rodney).
• Es entwickelten sich transkontinentale imaginierte Gemeinschaften, etwa im Pan-Afrikanismus.
• In der historischen Migrationsforschung dämmerte die Einsicht, dass die Perspektive „von der Nation zur ethnischen Enklave“ die Wirklichkeit migrantischen Lebens falsch wiedergab, da Migranten häufig transkulturell leben.
• Die Grenzkulturen, die „entdeckt“ wurden, passten nicht in monadische Schemata, genau so wenig wie z.B. Kreolisierung.
• Das Gleiche galt für transnationale Protest- und Streikzyklen.

All diese Entwicklungen (sowie die wesentlich intensivierten Kontakte zwischen Historikern der verschiedenen Länder und Kontinente – wozu die ITH wesentlich beigetragen hat) haben eine Situation herbeigeführt, wo die beiden Prämissen der traditionellen Geschichte der Arbeit deutlich sichtbar wurden – und damit zu einem Gegenstand der Debatte. Wir befinden uns nun in einer aufregenden Übergangssituation, in der sich die Fachrichtung selbst neu erfindet. Die Neue Geschichte der Arbeit hat begonnen, einer Globalen Geschichte der Arbeit (Global Labor History) das Feld zu räumen.

Es handelt sich hierbei in der Tat um ein außerordentlich ambitioniertes Projekt, das gerade erst begonnen hat. Viele der Ziele dieses neuen Ansatzes sind noch unklar oder erfordern weitere Überlegungen. Mein Buch versucht die begrifflichen, theoretischen und methodischen Grundlagen dieser neuen Geschichtsschreibung zu erkunden.

Was meint der Begriff „Globale Geschichte der Arbeit“? Selbstverständlich mag ihm jeder die Bedeutung zumessen, die gewünscht ist; ich selbst verstehe darunter folgendes:
• Soweit es die Methoden betrifft, würde ich vorschlagen, eher von einem „Feld von Interessen“ auszugehen denn von einer Theorie, der alle anhängen müssten. Wir wissen und sollten akzeptieren, dass unsere Forschungsauffassungen und interpretatorischen Vorannahmen differieren können. Pluralismus ist nicht nur unvermeidlich, er kann auch intellektuell stimulierend sein – gesetzt, wir sind zu jedem Zeitpunkt bereit, in eine ernsthafte Diskussion unserer unterschiedlichen Sichtweisen einzutreten. Ungeachtet unserer unterschiedlichen Ausgangspunkte jedoch sollten wir danach streben, produktiv in den gleichen Forschungsfeldern zu arbeiten.
• Was die Themen angeht, so konzentriert sich die Globale Geschichte der Arbeit auf die transnationale und sogar transkontinentale Untersuchung von Arbeitsbeziehungen und von sozialen Bewegungen der Arbeiter im weitesten Sinne des Wortes. Unter „transnational“ verstehe ich, den Gegenstand in den weiteren Kontext aller historischen Prozesse einzuordnen, selbst wenn er geographisch „klein“ ist, interaktive Prozesse zu untersuchen oder beides miteinander zu kombinieren. Die Untersuchung von Arbeitsverhältnissen umschließt freie wie unfreie, bezahlte wie unbezahlte Arbeit. Soziale Bewegungen von Arbeitern bestehen sowohl aus formellen Organisationen als auch aus informellen Aktivitäten. Die Untersuchung von Arbeitsverhältnissen und von sozialen Bewegungen verlangt es, der „anderen Seite“ (Arbeitgebern, Behörden) ebenfalls die ihnen zustehende Aufmerksamkeit zu schenken. Die Untersuchung von Arbeitsverhältnissen betrifft nicht bloß den individuellen Arbeiter, sondern ebenso seine bzw. ihre Familie. Geschlechtliche Rollenverteilungen spielen eine wichtige Rolle innerhalb der Familie und in Arbeitsverhältnissen, von denen einzelne Familienmitglieder betroffen sind.
• Was die Zeit angeht, so denke ich, dass es in der globalen Geschichte der Arbeit im Prinzip keinerlei temporale Grenzen gibt. Allerdings denke ich, dass aus praktischen Gründen das Hauptaugenmerk auf Arbeitsverhältnissen und sozialen Bewegungen von Arbeitern liegen wird, die sich gemeinsam mit dem Wachstum des Weltmarktes seit dem 14. Jahrhundert entwickelt haben. Wo immer dies sinnvoll erscheint, etwa zu Vergleichszwecken, sollten jedoch Studien, die weiter in die Zeit zurückreichen, keinesfalls ausgeschlossen werden.

Die Entwicklung einer globalen Geschichte der Arbeit wird, wenn sie fruchtbar sein will, eine ganze Reihe von Hindernissen zu überwinden haben. Diese Hindernisse schließen praktische Probleme mit ein, so etwa den Umstand, dass es im globalen Süden an gut klimatisierten, aktiv sammelnden Archiven fehlt. Ich will mich an dieser Stelle nicht mit solchen technischen Problemen aufhalten und werde mich auf die zentralen Herausforderungen konzentrieren.

Das größte Hindernis, das wir zu überwinden haben, sind nämlich wir selbst mit unserem Ballast an traditionellen Theorien und Interpretationen. Zwei der wichtigsten Fallgruben habe ich bereits erwähnt: Den methodologischen Nationalismus und den Eurozentrismus. Alle zentralen Begriffe der traditionellen Geschichte der Arbeit sind im Wesentlichen auf Erfahrungen in der nordatlantischen Region gegründet und sollten daher kritisch überprüft werden. Dies gilt bereits für das Wort „Arbeit“ selbst. In den meisten wichtigen westlichen Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch usw.) wird eine Unterscheidung vorgenommen zwischen „Arbeit“ und „Tätigkeit“, wobei „Arbeit“ sich auf Mühe und Anstrengung bezieht (wie in „Frauenarbeit“), während „Tätigkeit“ einen kreativeren Prozess meint. Diese binäre Bedeutung, aus der eine Philosophin wie Hannah Arendt weitreichende analytische Konsequenzen ableitete, ist in vielen anderen Sprachen gar nicht vorhanden, und in manchen Fällen gibt es überhaupt kein Wort für „Arbeit“ oder „Tätigkeit“, da diese Begriffe von den spezifischen Eigenheiten der einzelnen Arbeitsprozesse abstrahieren. Wir sollten daher sorgfältig prüfen, in welchem Maße die Begriffe „Arbeit“ und „Tätigkeit“ transkulturell verwendbar sind; zumindest sollten wir ihre Bedeutung genauer definieren, als wir dies für gewöhnlich tun. Wo beginnt „Arbeit“, und wo endet sie? Wie wird die Grenze zwischen „Arbeit“ und „Tätigkeit“ genau gezogen, oder ist diese Grenze weniger offensichtlich als häufig angenommen?

Auch das Konzept der „Arbeiterklasse“ bedarf einer kritischen Überprüfung. Es scheint, dass dieser Begriff im 19. Jahrhundert eingeführt wurde, um eine Gruppe sogenannter „respektierlicher“ Arbeiter von Sklaven und anderen unfrei Arbeitenden, Selbständigen (den „Kleinbürgern“) und armen Außenseitern, dem Lumpenproletariat, abzugrenzen. Aus vielen Gründen, die an dieser Stelle nicht diskutiert werden können, ist eine solche Interpretation für den globalen Süden schlichtweg unangemessen. Diejenigen sozialen Gruppen, die im Blick der Alten und der Neuen Geschichte der Arbeit quantitativ unbedeutend sind – Ausnahmen, die die Regel bestätigen –, sind die Regel in weiten Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Wir werden eine neue Konzeptualisierung zu entwerfen haben, die weniger auf die Exklusion als vielmehr auf eine Inklusion verschiedener abhängiger oder marginalisierter Arbeitergruppen hinzielt. Wir müssen einsehen, dass die „richtigen“ Lohnarbeiter, die als freie Individuen leben, die über ihre Arbeitskraft als Ware verfügen und keine andere Ware zu verkaufen haben, nur eine Erscheinungsform sind, in der der Kapitalismus Arbeitskraft in ein Handelsgut verwandelt. Es gibt zahlreiche weitere Formen, die die gleiche Aufmerksamkeit verdienen, wie etwa Sklaven, Kontraktarbeiter, Schuldknechte, Teilpächter usw.

Die Notwendigkeit, unsere theoretischen und methodologischen Annahmen zu überdenken, muss uns selbstverständlich nicht davon abhalten, sofort auch die empirische Forschung anzugehen. Es ist anzunehmen, dass in Wirklichkeit gerade die Wechselwirkungen zwischen konzeptueller Erneuerung und entdeckender Forschung uns befähigen werden, eine Globale Geschichte der Arbeit aufzubauen. Wie auch die nun anfangende Tagung der ITH zeigen wird, wurden dabei in den letzten Jahren wichtige Fortschritte gemacht.

Robert René Kuczynski war ein sehr früher, weitsichtiger und wichtiger Vorläufer dieser Entwicklungen. Seine große Studie mit dem Titel Arbeitslohn und Arbeitszeit in Europa und Amerika, 1870-1909, kurz vor dem ersten Weltkrieg publiziert, war eine Pionierleistung, die in ihrer Breite und ihrem Materialreichtum noch immer nicht richtig übertroffen wurde. Es ist mir eine Ehre, in seinem Sinne weiterzuarbeiten. Vielen Dank!

Linz, 10.9.2009