René-Kuczynski-Preis 2008
an Jan Peters für sein Buch:
Märkische Lebenswelten. Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack, Prignitz 1550-1800
BWV Berliner Wissenschafts-Verlag 2007 (= Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, hrsg. v. Klaus Neitmann, Bd. 53), 872 Seiten, ISBN 978-3-8305-1387-2
Die Jury des Vereins zur Vergabe des René Kuczynksi Preises hat als Preisträger für 2008 den Potsdamer Sozial- und Wirtschaftshistoriker Jan Peters nominiert.
Die Preisverleihung fand im Rahmen der Eröffnungsfeier der 44. Linzer Konferenz der ITH am 11. September 2008 im Jägermayrhof statt. Auf die Laudatio der Jurorin Claudia Ulbrich folgte ein Vortrag des Preisträgers Jan Peters.
Aus der Begründung der Jury
Ausgangspunkt dieses Buches ist die ausgezeichnete Überlieferung im Herrschaftsarchiv der Familie von Saldern. Aus Tausenden von Akten über die Herrschaft Plattenburg-Wilsnack fügt Jan Peters Mosaiksteinchen zusammen, die ein beeindruckendes Bild vom Alltag der Menschen in einer adligen Herrschaft ergeben. In seiner Untersuchung, die 1552 mit der Übernahme der Herrschaft des Matthias von Saldern beginnt und im 18. Jahrhundert mit der Verpfändung der Saldernschen Güter endet, kommt das Leben jener in den Blick, die sonst in der Geschichte unsichtbar bleiben. Ihr Handeln wird in der Darstellung stets auf Herrschaft und Gesellschaft bezogen, die als Konfliktgemeinschaft verstanden werden. Auf diese Weise entsteht ein differenziertes Bild von einer dynamischen ländlichen Gesellschaft. Jan Peters, der als Leiter der Potsdamer Arbeitsgruppe “Ostelbische Gutsherrschaft als sozialhistorisches Phänomen” wichtige Arbeiten für die Neubewertung von Gutsherrschaft und Gutswirtschaft angeregt hat, hat mit den “Märkischen Lebenswelten” eine Studie vorgelegt, die mit ihrem anthropologischen Interesse an den handelnden Menschen Maßstäbe für die künftige Gutsherrschaftsforschung setzt.
(Univ.-Prof. Dr. Claudia Ulbrich)
Curriculum Vitae von Prof. Dr. Jan Peters
Geb. 1932, als Kind im Exil mit den Eltern in der Sowjetunion 1935-38 und in Schweden 1938-48. Rückkehr in die Ostzone im Juni 1948, Oberschulbesuch in Blankenfelde 1948-52. 1952-1956 Studium der Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin. 1956-1962 Assistent am Historischen Institut der Universität Greifswald. 1961 Promotion (“Die Landarmut in Schwedisch-Pommern”), 1975 Habilitation (“Exilland Schweden”). 1962-64 Redakteur bei Radio Berlin International (Schwedische Redaktion), 1964-66 Fachreferent für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR, 1967-70 Direktor des DDR-Kulturzentrums Stockholm, 1970-1991 Wiss. Mitarbeiter des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR, Chefredakteur des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte. 1978 nebenamtl. Honorarprof. in Greifswald, 1994 Universitätsprof. am Historischen Institut der Universität Potsdam (Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit). 1992-1996 Leiter der Max-Planck-Arbeitsgruppe “Ostelbische Gutsherrschaft” in Potsdam. Lehrveranstaltungen in Greifswald, Berlin, Potsdam. 1997 Ruhestand. 1997-99 Projektleiter, 1999 Vorsitzender des Vereins “Ostelbische Gutsherrschaft und Kultur der ländlichen Gesellschaft”. Vorstandsmitglied der Brandenburgischen Historischen Kommission, Beiratsmitglied der Zeitschrift Historische Anthropologie, Mitglied des Internationalen Beirats von Historisk Tidskrift (Stockholm), Mitherausgeber der Reihe Selbstzeugnisse der Neuzeit.
Jury
Univ.-Prof. Dr. Gerhard Botz (Institut für Zeitgeschichte, Univ. Wien)
Univ.- Prof. Dr. Josef Ehmer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Univ. Wien)
Prof. Dr. Rüdiger Hachtmann (Berlin)
Prof. Dr. Jörg Roesler (Berlin)
Prof. Dr. Claudia Ulbrich (Friedrich-Meinecke-Institut für Geschichte, FB Geschichts- und Kulturwissenschaften der FU Berlin)
Univ.-Doz. Dr. Berthold Unfried (ITH & Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Univ. Wien)
Laudatio von Claudia Ulbrich
Laudatio von Claudia Ulrbich, Berlin anlässlich der Verleihung des René Kuczynski-Preises 2008 an Jan Peters
Es ist mir eine große Freude, heute im Rahmen dieser Veranstaltung Jan Peters vorzustellen, der mit seinem Buch “Märkische Lebenswelten. Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack, Prignitz 1550-1800” eine bemerkenswerte Studie zur Neubewertung von Gutsherrschaft und Gutswirtschaft in Ost- und Ostmitteleuropa vorgelegt hat.
Bevor ich auf das Werk, das für den Rene Kuczinsky Preis des Jahres 2008 ausgewählt wurde, näher eingehe, möchte ich ihnen zuerst, mit wenigen Worten den Wissenschaftler und sein Oeuvre vorstellen.
Jan Peters, der seine Kindheit im Exil in der Sowjetunion und Schweden verbrachte hat an der Humboldt Universität in Berlin Geschichte studiert und wurde 1961 nach einer Assistententätigkeit in Greifswald mit einer Arbeit über die Landarmut in Schwedisch-Pommern promoviert. Sein beruflicher Werdegang brachte ihn immer wieder in unmittelbare Beziehung zu Schweden, zunächst als Redakteur bei Radio Berlin International, wo er die Schwedische Redaktion betreute, später von 1967-70 als Direktor des DDR-Kulturzentrums Stockholm. Dem “Exilland Schweden” galt schließlich auch seine Habilitationsschrift, die 1975 an der Universität Greifswald angenommen wurde. Hierin hat er die Geschichte der deutschen antifaschistischen Emigration in Schweden in der Zeit des Nationalsozialismus untersucht, ein Thema, das er nur bearbeiten konnte, weil er sich auf Interviews mit Zeitzeugen stützte. Seine Arbeit ist, ungeachtet der Kritik, die daran geübt wurde, ein frühes Beispiel für die Anwendung der Oral History, die seit den 1970er Jahren in der Zeitgeschichtsforschung zunehmend an Bedeutung gewann.
Von 1970 bis 1991 war Jan Peters Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR und Chefredakteur des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte an der Akademie der DDR. Nach den politischen Veränderungen des Jahres 1989 stand bekanntlich die DDR- Wissenschaftslandschaft auf dem Prüfstand. In der damaligen schwierigen Situation hat die Max-Planck-Gesellschaft 26 Arbeitsgruppen in den neuen Bundesländern eingerichtet, darunter auch einige wenige geistes- und geschichtswissenschaftliche. Eine von ihnen war die Potsdamer Arbeitsgruppe “Ostelbische Gutsherrschaft”. Sie nahm ihre auf fünf Jahre befristete Arbeit am 1. Januar 1992 auf. Jan Peters wurde die Leitung der Gruppe übertragen. In seiner Funktion als Direktor der Arbeitsgruppe “Ostelbische Gutsherrschaft” hat sich Jan Peters umfassende Verdienste erworben: Als Wissenschaftler mit seinen Forschungen zur Gutsherrschaft, deren beeindruckendes Ergebnis nunmehr in den märkischen Lebenswelten vorliegt; als akademischer Lehrer in der Ausbildung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern aus den alten und den neuen Bundesländern und nicht zuletzt als Wissenschaftsorganisator, der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ost und West an einen Tisch brachte, um mit ihnen über sein Konzept zu diskutieren. Ich erinnere mich noch gut an eine von der Arbeitsgruppe 1993 durchgeführte Tagung zum Thema “Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften”, auf der eine intellektuelle Streitkultur im besten Sinne des Wortes praktiziert wurde, gab es doch endlich einen Raum, in dem die aus dem 19. Jahrhundert stammende These einer Dichotomie zwischen Grund- und Gutsherrschaft dekonstruiert und neue Fragen formuliert werden konnten. Sie drehten sich vor allem um jene Probleme, die in der Arbeitsgruppe “Ostelbische Gutsherrschaft” diskutiert worden waren. Zu den Zielen dieser um Jan Peters organisierten Gruppe gehörte es, die soziale Funktionsweise des Modells Gutsherrschaft zu verstehen und ihre historische Wirkung zu erklären. In kritischer Auseinandersetzung mit der Kommunalismusthese von Peter Blickle wurde nach Formen der Selbstbestimmung in Gutsherrschaften gesucht, Herrschaft im Sinne Alf Lüdtkes als soziale Praxis verstanden, in der das Handeln von Obrigkeit und Untertanen aufeinander bezogen waren. War Gutsherrschaft bis dahin nur eine Folie, vor dem die vermeintlich ganz anderen Verhältnisse im Bereich der Grundherrschaft erklärt wurden, so entstand im Kontext der Arbeitsgruppe eine historisch differenzierte Landschaft mit ihrer eigenen Geschichte, eine Landschaft, in der Menschen lebten und als Akteure und Akteurinnen Geschichte machten. Im Vorwort zu dem Tagungsband Gutsherrschaft als soziales Modell formulierte Jan Peters den Satz: “Denn auch für die Gutsherrschaften gilt: Menschen (in der ganzen lebensweltlichen Bandbreite der ländlichen Gesellschaft) gehen nicht auf in ihrer Rolle als wirtschaftshistorisch-statistische Einheiten oder als “Material” für verfassungsrechtliche Konstruktionen. Sie sind eben auch als Menschen, einzeln und in verschiedenen Gemeinschaften, mit eigenem Lebenssinn geschichtsmächtig.” Ihnen auf die Spur zu kommen, war das Ziel der Arbeitsgruppe und war auch Jan Peters ganz persönliches Projekt, das er in den märkischen Lebenswelten verwirklichte. Methodisch orientierte er sich an Ansätzen, die im Max-Planck-Institut in Göttingen formuliert worden waren, Geschichte sollte in einer quellengesicherten Narration in kleineren Zusammenhängen erzählt werden. Es sollte, wie dies einst Hartmut Lehmann formuliert hatte, ein Mikroskop angesetzt werden: Ich zitiere aus dem Geleitwort von Hartmut Lehmann zu dem von Hans Medick und Benigna von Krusenstern herausgegeben Band Zwischen Alltag und Katastrophe Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe: “Wer als Historiker das Mikroskop einsetzt, wird außerdem mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert, die man vielleicht als politisch-moralische Herausforderung bezeichnen könnte. Denn nunmehr beginnt die scheinbar so große, fast unüberwindbare Distanz zwischen dem Betrachter und den Zeitgenossen zu schwinden. Die Erfahrungen und Empfindungen der Zeitgenossen wirken auf die Wertungen des Historikers ein. Konkret: Indem man als Historiker die Dinge so zu erleben und so zu sehen lernt wie die Zeitgenossen sie erlebt und gesehen haben, wird man bei diesem Thema mitten hinein versetzt in das Kriegselend”.
Jan Peters wollte sich in der Untersuchung – oder sollte man sagen “Erschaffung” der märkischen Lebenswelten jedoch nicht auf einen kleinen Zeitraum beschränken, sein Ziel war, einen eigenen Weg zwischen Mikrogeschichte und Makrogeschichte zu finden. Er schrieb ein Buch, das räumlich und zeitlich weit über den Rahmen hinausgeht, was in Mikrogeschichten, wie sie David W. Sabean und Hans Medick vorgelegt haben, untersucht wurde, erzählte Geschichte gleichzeitig aber wesentlich umfassender als das in makrohistorischen Darstellungen der Fall ist. Ausgangspunkt seines Interesses sind anthropologische Fragestellungen Es ging ihm zu allererst darum, Menschen in der Geschichte als Akteurinnen und Akteure sichtbar zu machen, ihr Leben zu verorten innerhalb von Familie, Gemeinde und Herrschaft, die er als Konfliktgemeinschaft begriff. Der Weg dahin war freilich mühsam, denn die Quellen sprechen nicht von selbst: Viele Mosaiksteinchen mussten zusammengefügt werden, bevor das Bild eines jener Menschen entstand, für die in der traditionellen Geschichtsschreibung oft kein Platz ist. Dabei verliert Peters sich nicht in der Darstellung einzelnen Lebens, sondern bezieht das Handeln immer auf Herrschaft und Gesellschaft, das er verstehen und erklären möchte. Sein Zugang wird bereits im Aufbau des Bandes. Das Buch beginnt mit dem Jahr 1552, als der kurfürstliche Oberkammerherr Matthias von Saldern das Amt Plattenberg als Pfand erhielt und den Grundstein der Saldernschen Herrschaft legte. Bauern und Herren mussten damals viel lernen, aber Matthias war ein kluger Herr, der wusste, dass er auf die traditionalen und kollektiven Rechte seiner Untertanen achten musste. In fünf großen Kapiteln wird dann die Geschichte der märkischen Lebenswelten entfaltet: Herrschaft, Inszenierung und Umbau (1550-1575), Gutswirtschaft, Bedrängnis und Widersinn (1575-1625), Angst Hexerei und Krieg (1625-1650), Hoffnung, Enttäuschung und Neubeginn (1650-1700), Enttäuschung, Hoffnung und Wandel (1700-1800). Schon die Gliederung zeigt den Versuch, Stimmungen einer Zeit einzufangen und sie zum Leitfaden der Geschichte zu machen, einer Geschichte, die wie die Jahreszahlen zeigen, gleichwohl voranschreitet, in der Veränderungen gerade in der longue durée sichtbar werden sollen. Es ist das Nebeneinander von Beharren und Veränderung, von Nöten und Hoffnungen, von Untertänigkeit und Eigensinn, dass dem Autor so wichtig ist.
Ort der Handlung ist die der Familie von Saldern unterstehende Herrschaft Plattenburg Willsnack, für die eine exzellente Überlieferung besteht. Tausende von Akten gerichtlicher und anderer Behörden, zehntausende von Eintragungen in Kirchenbüchern und viele andere Quellen erlaubten es, den gesamten Kosmos einer brandenburgischen Adelsherrschaft in den Blick zu nehmen. Dank des exzellenten Quellenbestandes im Potsdamer Landeshauptarchiv konnte Jan Peters die Geschichte dieser Adelsherrschaft über zwei Jahrhunderte verfolgen. Der gewöhnliche Alltag konnte ebenso rekonstruiert werden wie auch außergewöhnliche Krisen-, Konflikt- und Kriegssituationen rekonstruiert. Nicht nur allgemein, sondern ganz konkret, quellen- und lebensnah, so wie der Einzelne, die Familie, Herr und Pfarrer, Bauer und Knecht, Mann und Frau die alltägliche Dynamik und Ordnung in ihrer jeweiligen Lebenswelt an sich selbst erfuhren oder erfahren haben könnten. Peters stellte ungewöhnliche Fragen und erhielt überraschende Antworten: Warum tauschten Dörfer Fehdebriefe miteinander aus? Inwieweit ist auch auf den Herrensitzen und Pfarrhöfen Volksmagie praktiziert und Hexenjagd akzeptiert worden? Welche Formen konnten die starken Gefühle für soziale Ehre und Selbstbestimmung in Wort und Gebärde annehmen? Wie sind sie zum Ausdruck gebracht worden, in Kirche und Krugrunde, an Brunnen und Bleiche und vor allem auch vor Gericht? Wie äußerten sich seelischer Kummer und Resignation, wie Leid und List, wie Aufbegehren? Wie aber auch Saldernsche Sorgen um ihr märkisches Imperium, wie jeweils ihr Umgang mit ihren Untertanen? Auf diese Weise ist ein Buch entstanden, das eine plastische Vorstellung vom Alltag vergangener Jahrhunderte vermittelt. Wie ein roter Faden zieht sich die Frage nach Selbstbehauptung, Selbstbestimmung, Selbstordnung, Selbstständigkeit, gemeindlicher Autonomie durch das Buch, vor dieser Folie erscheinen Forderungen der Herrschaft als Zumutungen, denen die Untertanen mit Eigensinn, Widerständigkeit, der List der Schwachen entgegentreten, ihre Eigenkultur verteidigen. Sie sind Widerborstig, aufmüpfig, zeigen ihren offenen Unwillen, Zank und Widerstreit. Auf diese Weise wird eine Konfliktkultur sichtbar, deren Bedeutung für Peters nicht nur in der Vergangenheit liegt: Jan Peters Buch ist nicht nur ein wissenschaftliches, sondern auch ein politisches, besser noch: es ist ein persönliches Lebenswerk – drängte ihn doch, wie er schreibt, ein aus der eigenen Lebenswelt bezogener Antrieb, “nämlich als unbedeutend geltendes und doch erinnerungswürdiges Leben, insbesondere das der scheinbar Stimmlosen zu rekonstruieren, zu bewahren oder doch zumindest dessen Versinken aufhalten zu helfen” (S. 3). Dies ist nach Auffassung der Juroren, die ihn für den Kucszinsky-Preis vorgeschlagen haben, ausgezeichnet gelungen.