Internationale wissenschaftliche Tagung: Transnationale Netzwerke. Beiträge zur Geschichte der „Globalisierung“
16.-18. November 2007, Wien
Konferenzbericht
Die ITH hat das erste Jahr ihres Dreijahreskonferenzzyklus „Labour history beyond borders“ dem Thema der Netzwerke gewidmet und dazu zwei Konferenzen abgehalten:
Die reguläre (43.) Linzer Konferenz der ITH „Transnationale Netzwerke der ArbeiterInnen (bewegung)/Transnational Networks of Labour/Réseaux transnationaux du mouvement ouvrier“ in Linz vom 13.-16.9.2007
Die internationale wissenschaftliche Tagung „Transnationale Netzwerke. Beiträge zur Geschichte der ‚Globalisierung'“/Transnational Networks. Contributions to the History of ‚Globalisation'“ in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, der Gesellschaft für Sozialgeschichte und dem Karl Renner-Institut in Wien vom 16.-18.11.2007
Transnationale Netzwerke
Transnationale, also den Nationalstaat überschreitende und unterlaufende Netzwerke sind als die genuine Organisationsform der „Globalisierung“ ins Zentrum des Interesses gerückt. Es sind Analytiker der unter dem Begriff „Globalisierung“ zusammengefassten Entwicklungen der Weltwirtschaft, der Weltgesellschaft und Politik, die fluktuierende Netzwerke als die Organisationsform eines dynamischen „space of flows“, dem Raum der Ströme (Manuel Castells) in die Diskussion gebracht haben. Dies im Gegensatz zu einem trägeren „space of place“, dem Raum der Orte, an denen die Arbeit und der Staat verankert seien.
„Netzwerk“ ist in dieser Konzeptualisierung deutlich vom Territorialstaat, vom Nationalstaat, vom Wohlfahrtsstaat abgesetzt, resp. dem Staat entgegengesetzt. Zwischen dem Territorialstaat/dem Nationalstaat und transnationalen Netzwerken herrscht eine Konkurrenz oder zumindest ein Spannungszustand. Der Territorialstaat versucht, transnationale Netzwerke in den Raum seiner Kontrolle zu bringen, schneidet transnationale Netzwerke ab, wo er kann. „Netzwerke“ florieren in der so genannten „Zivilgesellschaft“, von welcher der Staat ferngehalten werden soll, in der die Rolle der Welt der Arbeit relativ gering ist, und die den Staat durch Transnationalisierung zu marginalisieren sucht. Die „Zivilgesellschaft“ ist ja jene Sphäre, in der soziale Ungleichheit herrscht und Spielregeln, die Veränderung schwierig machen. „Transnational“ angelegte Netzwerke entziehen sich dem Griff des Territorialstaats/des Wohlfahrtsstaats. Aber das ist nur eine Seite der Geschichte der Arbeiterbewegung. Auf der anderen stehen ihre den Nationalstaat übersteigenden Kooperationsformen.
„Netzwerk“ ist ein enorm vieldeutiger Begriff, der schwer eindeutig zu fassen ist. Er hat auf der einen Seite negative Konnotationen: Klientelismus, Clanstrukturen, welche die Staatsbildung unterlaufen, Seilschaften, mafiose Strukturen, kriminelle Netzwerke, terroristische Netzwerke, Geheimgesellschaften. Wir hielten es für günstig, um die enorme Vielfalt von Netzwerken halbwegs in den Griff zu bekommen, Netzwerke vor und nach dem Aufkommen moderner formaler Organisationen und der Durchsetzung des modernen Territorial- und Nationalstaats zu unterscheiden. Clanstrukturen, mafiose Strukturen etwa wären dann vormoderne Formen, die von formalen Organisationen und vom Staat zurückgedrängt würden. Mit zunehmender Ausdifferenzierung zerfielen diese dann wieder zunehmend in informellere Organisationsformen, Netzwerke neuen Typs. In unseren beiden Konferenzen ging es also um diesen zweiten historischen Typus von Netzwerken.
Uns interessierten Netzwerke in erster Linie als Strukturen der Ausübung von Macht und Einfluss. Und Netzwerke interessierten uns als Strukturen der Ausübung von Gegenmacht. Hier werden Netzwerke oft mit NGOs als Strukturen von global governance assoziiert, also einer globalen politischen Normensetzung und Kontrolle durch nichtstaatliche Akteure. Diese werden oft als Ausdruck einer „internationalen Zivilgesellschaft“ verstanden – das ist die meist positiv besetzte Seite des Netzwerkbegriffs. Ein näherer Blick zeigt aber auch hier eine grundsätzliche Ambivalenz, durch die sich der Netzwerkbegriff einer eindeutigen Zuordnung entzieht. Politische Netzwerke bilden sich um bestimmte Anliegen, das sind so genannte advocacy networks. Das sind Lobbygruppen, die sich zum Advokaten eines bestimmten Anliegens machen: das kann Attac sein, aber auch politik- und einflussorientierte Wissensgemeinschaften wie die Mont Pèlerin Society. Oder ad hoc – Politikkoalitionen wie jene zu den Millennium Development Goals oder zu Clean Clothes. Oder aber Netzwerke mit dem Ziel der Durchsetzung internationaler Normen, welche die neuen Kolonialkriege rechtfertigen.
Grundsätzlich stellt sich die Frage: Ist „Netzwerk“ eine eigene, genuine Organisationsform oder ein Aspekt, ein Modus der Organisierung von Beziehungen und von Kommunikation, auf den hin man grundsätzlich alle Organisationsformen untersuchen könnte? Netzwerke sind informeller, fluider, zeitlich begrenzter und oft auf punktuellere Zwecke, Ziele, gerichtet, weniger verfestigt als Organisationen. Sie sind nicht institutionalisiert und ihre Hierarchien sind nicht formalisiert, sie sind informell oder gewohnheitsmäßig. Keinesfalls kann m.E. behauptet werden, Netzwerke seien prinzipiell hierarchielos. Es handelt sich nur um Hierarchien, die nicht verschriftlicht und nach außen hin unmittelbar einsichtig sind. In formaler Hinsicht bestehen Netzwerke aus Beziehungen, die als Verbindungen von Knotenpunkten dargestellt werden können. Diese Verbindungen können verschiedene Form annehmen von der direkten menschlichen Begegnung bis zur virtuellen Kommunikation; sie können formalisiert oder informell sein, mehr oder weniger oder gar nicht institutionalisiert; man kann sie nach Dichte und Frequenz unterscheiden und nach Bedeutungs- und Hierarchiekriterien. Knotenpunkte können Individuen, Gruppen und Organisationen sein (oder auch virtuelle Knotenpunkte im Internetz). Sie können innerhalb oder außerhalb von Institutionen angesiedelt sein. Sie können auf ihre Ordnungsfunktion und auf ihre Machtausübung hin befragt werden.
Es ist ein potenziell ungeheuer weites Feld, das mit dem Begriff „Netzwerk“ in das Blickfeld gerät. Die Beiträge der Linzer Konferenz thematisierten den Beitrag von Formen transnationaler Netzwerke der Arbeiterbewegung zur Geschichte der „Globalisierung“. Die Wiener Konferenz erweiterte das Thema der Linzer Konferenz über die Arbeiterbewegung hinaus. In beiden Tagungen waren gleichwohl nur einige Formen von Netzwerken vertreten. Netzwerke, die offizielle Strukturen von Organisationen unterlegen (Netzwerke, die für die Praxis der Machtausübung wesentlich relevanter sind als die offiziellen, sichtbaren; das mag aber in unterschiedlichem Ausmaß für alle Organisationen gelten), und Netzwerke, die sichtbar nach außen hin operieren; Netzwerke des Ideologietransfers, als Vektoren der globalen Verbreitung von Wissen, Normen, kulturellen Praktiken und Lebensstilen; personenzentrierte und organisationszentrierte Netzwerke; Wissensnetzwerke von Konsulenten, die Organisationen zuarbeiten und untereinander als Wissensgemeinschaften (epistemic communities) vernetzt sind; politische Stiftungen und internationale Organisationen und think tanks, die Expertennetzwerke unterhalten resp. auf Wissen zurückgreifen, das in solchen Netzwerken kommuniziert wird; oder überhaupt selbst netzwerkartige Formen annehmen? Religiöse Netzwerke, in denen Heilsgüter erzeugt und zirkuliert werden; Nicht zuletzt Migrationsnetzwerke, die transnationale oder vielleicht besser „translokale“ Lebensräume aufspannen.
Die Beiträge zu den beiden Konferenzen sollten den Beitrag von Formen transnationaler Netzwerke zur Geschichte der „Globalisierung“ thematisieren. In Netzwerken zirkulieren Menschen und in Netzwerken zirkulieren Ideen, Einstellungen, Vorstellungen, ohne dass sich die Menschen, die diese verbreiten, selbst räumlich bewegen müssen. Diese einfache Unterscheidung gab eine grobe Strukturierung der Tagungen: Netzwerke, die in erster Linie Menschen bewegen bzw. andersherum definiert, Netzwerke, die in erster Linie durch die Zirkulation von Menschen entstehen, werden von solchen Netzwerken abgesetzt, die in erster Linie Werthaltungen, Konzepte, Vorstellungen und entsprechende Praktiken zirkulieren lassen, bzw. die durch die Zirkulation solcher Vorstellungen und Werthaltungen entstehen. Innerhalb dieser Netzwerke der Zirkulation von Vorstellungen und Praktiken waren die Sitzungen gruppiert nach personenzentrierten und organisationszentrierten Netzwerken.
Es handelte sich meist um Werkstättenberichte von Forschungen, die versuchen, etwas mit dem Netzwerkbegriff anzufangen. Das gibt der Konferenz einen experimentellen Charakter. Gerade dieses Gefühl aber, dass nichts fix ist, dass die Dinge um den Forschungsbegriff „Netzwerk“ herum im Fluss sind, regte die Diskussion an. Auf der Wiener Konferenz wurde die Diskussion zusätzlich durch Kommentare zu einzelnen Referaten stimuliert.
Transnationale Netzwerke der ArbeiterInnen (bewegung)/Transnational Networks of Labour/Réseaux transnationaux du mouvement ouvrier
Linzer Konferenz, 13.-16. September 2007
Die Tagung sollte in Erinnerung rufen, dass die Arbeiterbewegung mit ihrem weltumspannenden („globalen“) Anspruch auch transnational angelegte Vernetzungsversuche ausgebildet hat. Dieser Beitrag der Arbeiterbewegung wird in den heutigen Globalisierungsdebatten meist vergessen. „Transnational“, „Netzwerk“ und „Arbeit“, „Arbeiterbewegung“ werden nicht zusammen gedacht, weil die Welt der Arbeit und die „Arbeiterbewegung“ vorwiegend mit dem Nationalstaat in Zusammenhang gebracht werden, im Rahmen dessen in Europa ihre Organisationen zu Einfluss gelangt sind. Der Nationalstaat als Wohlfahrtsstaat limitiert Arbeit wie Kapital, indem er ihnen nationale Grenzen setzt. „Transnational“ angelegte Netzwerke entziehen sich dem Griff des Wohlfahrtsstaats. Aber das ist nur eine Seite der Geschichte der Arbeiterbewegung. Auf der anderen stehen ihre den Nationalstaat übersteigenden Kooperationsformen.
Eine erste Sitzung erläuterte Begriffe und Konzepte: Die Sozialhistoriker Wolfgang Neurath (Wien) und (Köln) stellten die Methode der Sozialen Netzwerkanalyse und konkrete Anwendungsformen in der historischen Forschung vor. Die Soziale Netzwerkanalyse ist ein methodisch präzise definiertes sozialwissenschaftliches Konzept der Erforschung und Darstellung von „Netzwerk“ auf Basis quantitativer Daten. Es hat jedoch wegen seiner Aufwändigkeit – es setzt umfangreiche Datenerfassung und ein spezialisiertes elektronisches Programmwissen voraus – noch wenig Verwendung durch Historiker/innen gefunden. Susan Zimmermann (Budapest) gab eine Übersicht zu Forschungsstand und Forschungsperspektive zu „Internationalismus“ – ein Begriff, dem sie dem heute gängigeren Begriff „Transnationalismus“ gegenüber weiterhin den Vorzug gibt. Sie gab einen Überblick über Perspektiven und Themen in der historischen Internationalismusforschung und über den Einfluss der Globalisierungsdebatte darauf. Internationalismus- wie Transnationalismusforschung zeichne weiterhin eine Konzentration auf die globalen Zentren und eine Vernachlässigung des Blickwinkels auf globale Ungleichheit aus. Der darauf folgende Vortrag von Dirk Hoerder (Arizona) führte die Versuche zur Begriffsbildung auf dem Gebiet der Migration von Menschen fort, indem er die Pertinenz der Begriffe „transnational“, „transregional und „transkulturell“ für die Analyse von Netzwerken von Arbeitsmigranten im 19. und 20. Jahrhundert diskutierte. Der transnationale Zugang in den Migrationsstudien, der sich in diesen Begrifflichkeiten ausdrückt, hat die einseitig gerichtete Begrifflichkeit von Immigration/Emigration ersetzt.
Die erste Sitzung zum Themenbereich der Migration von Ideen und Praktiken beschäftigte sich mit Stiftungen und internationalen Organisationen als Knotenpunkten von Netzwerken sowie mit den Netzwerken, die diese Organisationen unterhalten. Patrik von zur Mühlen (Bonn) untersuchte die Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung als Initiatorin internationaler Vernetzungsinitiativen. Clemens Rode (Warschau) berichtete aus der Praxis der internationalen Arbeit der Friedrich-Ebert-Stiftung, die seit dem Systemwechsel ArbeiterInnennetzwerke in Mittel- und Osteuropa unterstützt und unterhält, um der Transnationalisierung von Konzernen Strukturen auf Arbeitnehmerebene entgegenzusetzen. Dabei handelt es sich um eine halbformelle Organisationsform der Koordination von Interessen der Arbeitnehmer transnationaler Konzerne mit Standorten jenseits der Europäischen Union. Eine internationale Organisation als Knotenpunkt eines Netzwerks behandelte auch Daniel Maul (Berlin): Die International Labour Organization als Teil des transnationalen Netzwerkes zur Reform kolonialer Sozialpolitik 1940-1944. Maul untersuchte die Entwicklung und die Funktionsweise eines informellen kolonialreformerischen Netzwerkes aus Arbeitsrechtlern, Sozialpolitikern und (keynesianischen) Ökonomen, das ein Reformprogramm zu aktiver wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungspolitik für die kolonialen Bevölkerungen entwickelte, sowie seine Anbindung an die ILO.
Die zweite Sitzung zum Themenbereich der Migration von Ideen und Praktiken hatte Politische Netzwerke und Ideologietransfer zum Gegenstand. Der Transfer sozialistischer Theorieelemente war das Thema des Beitrags: Possibilities and Limitations in the Transfer of International Paradigms von Augusta Dimou (Leipzig). Wie wurde sozialistische politische Theorie in der Zeit der Zweiten Internationale in diese periphere europäische Region übertragen im doppelten Sinn: verbreitet und übersetzt? Dimou verfolgte Netzwerke der Verbreitung von sozialistischer politischer Theorie nach Südosteuropa anhand der Lebensläufe von Trägern dieser Theorien (oft Studenten und politische Migranten), von persönlichen, beruflichen (wer übersetzt wessen Werke) und brieflichen Kontakten und anhand der Zeugnisse des Auftauchens von Sprachelementen dieser Theorien. Ottokar Luban (Berlin) versuchte, am Beispiel der deutschen „Spartakusgruppe“ die Funktionsweise netzwerkartiger Verbindungen der „Zimmerwalder Bewegung“, einer informellen Assoziation kriegsoppositioneller Sozialisten während des Ersten Weltkriegs, zu erläutern. Bernhard Bayerlein (Mannheim) formulierte in seinem Beitrag: Transnationale Strukturen und Netzwerke der Komintern. Wege zur Erkundung eines politischen und kulturellen Universums, das Programm einer gleichermaßen reizvollen wie die Möglichkeiten eines einzelnen Forschers wahrscheinlich übersteigenden Analyse der Vernetzungsstrukturen der formalen Organisation der Kommunistischen Internationale wie der informellen personellen Netzwerke, welche die formale Organisation unterliegend durchziehen. Bayerlein unterschied 3 Ebenen von Netzwerken innerhalb der Komintern: die formale Organisation der Komintern selbst könnte als Netzwerk analysiert werden. Weiters könnten Vernetzungen über personelle und materielle Flüsse zwischen den Teilorganisationen dargestellt werden. Als entscheidend mögen sich letztlich aber personale Netzwerke unterhalb der Organisationsstruktur erweisen. Die Komintern ist ja ein Paradebeispiel für ein Problem bei der Untersuchung von Organisationen, das in unterschiedlichem Ausmaß für alle Organisationen gelten mag: dass verborgene Strukturen, nach außen hin nicht sichtbare Organisationsloyalitäten und informelle persönliche Netzwerke für die Praxis der Machtausübung wesentlich relevanter waren als die offiziellen, sichtbaren hierarchischen Organisationsstrukturen. Bruno Groppo & Catherine Collomp (Paris) präsentierten transatlantische Netzwerke des Jewish Labour Committee, mittels derer diese US-amerikanische Organisation in den 1930er und 1940er Jahren die Emigration europäischer Sozialdemokraten bewerkstelligte und die Emigranten unterstützte. Peter Waterman (Den Haag) richtete seinen Blick auf internationale Vernetzungsformen marginalisierter Schichten und Milieus arbeitender Menschen wie Landarme, in prekären Verhältnissen Arbeitende, Slumbewohner, Migranten, mittellose Frauen und indigene Bevölkerungen (Shall the Last Be the First? The Networked Internationalism of Labour’s Others). Ravi Ahuja (Heidelberg/London) leitete mit seinem im ersten Teil, in dem er die Gegenüberstellung von hierarchischen Institutionen und zentrumslosen Netzwerken kritisierte (was er anhand der Ergebnisse einer Fallstudie zu den Netzwerken indischer Seeleute zu verdeutlichen versuchte), konzeptuell angelegten Vortrag: Netzwerke und Arbeitsmärkte: Eine Annäherung an ein Problem transterritorialer Arbeitsgeschichte über zu der lebhaften Schlussdiskussion, in der noch einmal versucht wurde, Stränge der Diskussion der Einzelreferate zusammenzuführen.
Transnationale Netzwerke. Beiträge zur Geschichte der ‚Globalisierung’/Transnational networks. Contributions to the History of ‚Globalisation‘
Internationale Tagung in Wien, 15.-18. November 2007
Die zweite Konferenz zu dem ergiebigen Thema der Netzwerke wurde von der ITH in Zusammenarbeit mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und dem Karl Renner-Institut, Wien, als Sonderkonferenz organisiert. Ein Hauptthema war der Wissenstransfer über Netzwerke. Die Diskussion wurde durch Kommentare stimuliert, die zu Referaten eingesetzt wurden, zu denen sich leicht Wissenschaftler/inn/en aus Wien oder aus dem Umfeld der ITH anboten.
Die Einführung in die Begriffswelt von: national, international und transnational übernahm diesmal Johannes Paulmann (Mannheim). In seinem Referat ging er insbesondere auf die Entstehungsbedingungen und die Geschichte transnationaler Geschichtsschreibung im englischsprachigen Raum und in Deutschland ein. Christoph Boyer (Salzburg) hielt ein Einleitungsreferat zum „Nutzen und Nachteil von Netzwerktheorien für die Geschichtswissenschaft“, in dem er Netzwerke als Organisationsform vorstellte, die sich insbesondere durch den Transaktionskostenvorteil Vertrauen, verstanden als vorhersehbares Verhalten der Netzwerkbeteiligten, auszeichneten. Boyer kennzeichnete Netzwerke als Organisationsformen, die den Individuen eine Teilnahme durch bewusste Wahl erlaubten: Selbstorganisation, Wahlfreiheit statt hierarchielegitimiertes Octroi. Netzwerke seien keine Assoziationen von Gleichen, sie reproduzierten vielmehr Ungleichheit, allerdings nicht in hierarchisch geordneter Form.
Eine zweite Sitzung war der Migration von Ideen, Normen und Praktiken gewidmet: Kees van der Pijl (Sussex) versuchte, den Netzwerkbegriff für seine Analyse hegemonialer Strukturen im System der globalen politischen Ökonomie fruchtbar zu machen (Transnational Classes and the Structure of the Global Political Economy). Van der Pijl versuchte, Typen von Netzwerken, die Vertreter von Wirtschaft, Politik und Medien in einem strategischen Herrschaftsprojekt zusammenbringen, in ihrer historischen Abfolge in einem großen Bogen von der industriellen Revolution bis in unsere Zeit auszumachen.
Mit einer Gruppe von Experten in rechtlicher Normensetzung beschäftigte sich Ariel Colonomos (Paris): Experten in humanitärem Völkerrecht in Kriegseinsätzen, die aus ihrer Praxis diese Rechtsnormen konkretisieren. Die Experten der US-Armee arbeiten manchmal buchstäblich in Militärstiefeln, wenn sie als Rechtsberater in Fragen der Auswahl zulässiger Angriffsziele und Kampfmethoden bei Kampfeinsätzen fungieren. Ihnen stehen Experten auf Seiten von NGOs gegenüber, die sich aber hauptsächlich auf Menschenrechtsthemen spezialisiert haben. Zwischen den beiden Bereichen gibt es zwar eine gewisse Fluktuation – Experten in humanitärem Völkerrecht bilden zweifellos eine teilweise vernetzte Wissensgemeinschaft. Sie sind jedoch in unterschiedliche politische Projekte eingebettet (Normativists in Boots: Lawyers and Ethicists in the Military). Ein weiteres Referat zu Normenproduzenten hielt Sebastian Schüler (Münster). Er untersuchte an Fallbeispielen transnationale Netzwerke evangelikaler Sekten: Die Transnationalisierung globaler Heilsgüter am Beispiel der Pfingstbewegung. Als globale Heilsgüter untersuchte Schüler handlungsorientierende Normen, Werte, Ideologien und Weltanschauungen, die in Form von materiellen und immateriellen Produkten, Medien und Gütern gehandelt werden und die durch diesen Transfer religiöse Netzwerke generieren.
Kernfunktion politischer Stiftungen ist es, anwendungsorientierte Forschung und Politik zusammen zu bringen. Sie sind im breitesten Sinn „organisations between thought and action“ (Gemelli). Als Vermittler zwischen wissenschaftlicher Wissensproduktion und Politik sind sie Knotenpunkte von Wissensnetzwerken und von politischen Netzwerken.
Giuliana Gemelli (Bologna): Academic networks as drivers of European scientific integration: the role of the Ford Foundation in shaping the agenda of political sciences, beschäftigte sich mit jener für die USA so typische Organisationsform der Stiftung, die anwendungsorientierte Forschung mit dem Zweck fördert, sie für ein breit definiertes gesellschaftliches Projekt in die Politik einzuspeisen. Die politisch interessierte Förderung US-amerikanischer Stiftungen für europäische Universitäten, Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen nach dem zweiten Weltkrieg modernisierte einerseits ausgetrocknete akademische Strukturen und Ausbildungsformen und brachte frischen Wind in die Wissenschaft, die stärker mit der Politik und der Verwaltung kommunizieren sollte. Gleichzeitig förderte sie das breite Projekt des Aufbaus einer breiten Koalition für einen „westlichen“ Weg der Modernisierung der europäischen Gesellschaften. Maria Mesner (Wien): Global Population Policy: Emergence, Function and Development of a Network beschrieb die Entwicklung eines US-amerikanischen Netzwerks mit den Knoten Eugenik, Geburtenkontrolle und Bevölkerungswissenschaft. Kommunikation innerhalb dieses Netzwerks fand statt auf Treffen auf Fundraising-Veranstaltungen und Tagungen, durch Transfers über Beraterteams in Zielländer, durch Schulung von dortigem Personal, Einladungen von Studierenden aus Zielländern, welche die vermittelten Programme dann in ihren Ländern unterstützen.
Sitzung IV beschäftigte sich im Unterschied zu der vorangegangenen Sitzung mit personenzentrierten Netzwerken. Thema war der Wissenstransfer durch Netzwerke von Experten, die Organisationen zuarbeiten und untereinander in Wissensgemeinschaften (epistemic communities) vernetzt sind. Markus Kaiser (St. Peterburg) analysierte Entwicklungsexperten, verstanden als Experten in Bereich der internationalen „Entwicklungshilfe“ bzw. „Entwicklungszusammenarbeit“, als Verbreiter eines Konzepts von Entwicklung, das universelle Gültigkeit beansprucht. Kaiser versuchte, diese große Gruppe von Wissensarbeitern, die anwendungsorientiertes Wissen berufsmäßig verkaufen, als „globale Wissensgemeinschaft“ (epistemic community) zu erfassen. Über ihre Netzwerke verbreiteten sich Vorstellungen und Praktiken von Entwicklung weltweit. Dieter Plehwe (Berlin) untersuchte anschließend die Erzeugung und Verbreitung eines „neo-liberalen“ policy-orientierten Wissens über Entwicklung. Dieser Beitrag knüpft an die Beiträge über die Netzwerke von think tanks an, kann doch die Mont Pèlerin Society, ein Zusammenschluss „neo-liberaler“ Intellektueller, Wirtschaftsmanager, Journalisten und Politiker als ein solcher netzwerkförmig strukturierter und politikorientierter think tank gesehen werden. Die Sitzung wurde abgeschlossen mit einem Beitrag von Therese Garstenauer (Wien) über Versuche des Wissenstransfers über Netzwerke von sowjetischen und „westlichen“ Wissenschaftler/inne/n.
Sitzung V war der Migration von Menschen gewidmet: Josef Ehmer & Annemarie Steidl (Wien) beschäftigten sich mit Netzwerken, in die Migranten am Ursprungsort und am Zielort eingebunden waren (Networks in the history of migrations). Sie untersuchten Arten, wie diese Netzwerke geknüpft waren: waren relatives, friends, oder friends of friends dominierend? Waren Migranten sesshafte Menschen, die ortsgebunden lebten und dann einen einmaligen radikalen Ortswechsel durchführten; oder Personengruppen, die dauerhaft mobil lebten? Michael Twaddle (London) beschäftigte sich mit indischen Migrationsströmen nach und von Ostafrika (Indian migration networks in East Africa). Inder kamen innerhalb des British Empire v.a. als Zwischenhändler in die britischen Kolonien Ostafrikas, wo sie eine Schicht zwischen den Kolonialherren und Siedlern und den Afrikanern bildeten. Die neuen Staaten Uganda, Kenia und Tansania führten Politiken der „Afrikanisierung“ durch, welche Inder als Relikt des Empire in Wirtschaft und Verwaltung durch Afrikaner ersetzen sollten, die bis zur temporären Vertreibung (Uganda) gehen konnten, ohne dass die dominierende Stellung von Indern in der Wirtschaft dauerhaft erschüttert werden konnte. Jean-Baptiste Meyer (Montpellier): Diaspora Knowledge Networks: New Social Entities, New Policies, vertrat die Ansicht, dass die intellektuelle Migration in die Zentren für „Entwicklungsländer“ nicht nur einen brain drain-Effekt, sondern auch einen brain gain-Effekt haben könne. Seit den 1990er Jahren sei zu beobachten, dass Wissen über Netzwerke von expatriates in deren Herkunftsländer zurückfließe und für deren Entwicklung interessant werde.
In der Schlussdiskussion: Nutzen und Nachteile eines Zugangs zur Geschichte der Globalisierung über Netzwerke wurden einige grundlegende Fragen, die während der Konferenz angesprochen worden waren, nochmals aufgeworfen. Sinnvoll wäre es, den Begriff „transnational“ nicht einfach synonym mit „international“ zu verwenden, sondern ihn für Menschen zu reservieren, die sich durch eine permanent mobile Lebensform auszeichnen, und für Organisationsformen, die systematisch jenseits nationaler Grenzen angesiedelt sind. Kann man Netzwerke als Vergemeinschaftungsform des modernen Individuums ansehen? Das wären Formen von Kommunikation und Bindung, in die sich das Individuum selbstbestimmt und leicht ein- und wieder ausschalten kann. Damit wäre auch ein wesentlicher Unterschied zu traditionalen Netzwerken, solchen der Verwandtschaft, der Angehörigkeit zu Clans oder zu mafiosen und Geheimgesellschaften benannt, denen dieses Element des selbstbestimmten Ein- und Austritts abgeht. Ist ein Grund für die Beschäftigung mit Wissensnetzwerken darin zu suchen, dass solche Netzwerke zunehmend anwendungsorientierte Forschung über Expertise mit Politik, Wirtschaft, die „Zivilgesellschaft“ verbinden? Das Interesse dafür, wie Konzepte und Erklärungen erzeugt und weltweit verbreitet werden, hat auch mit einer realen Erfahrung zu tun. In der Tagung versuchten wir, diese Erfahrung zu systematisieren, kohärente Modelle für ihre Erklärung zu finden und diese anhand von Fallstudien zu testen. Einheitliche Schlüsse ließen sich daraus nicht ziehen. Aus den Beiträgen zu der Tagung lässt sich kein einheitlicher Netzwerkebegriff destillieren. Das heuristische Konzept „Netzwerk“ diente, wie sich an der enorm fruchtbaren Konferenz zeigte, erfolgreich als stimulans. Es kann aber nicht als einheitliches Strukturierungselement für einen Sektor der Forschung dienen. Der Netzwerkebegriff führte uns in einer tour de force durch die Disziplinen und vereinte die Teilnehmer der Konferenz in einer kurzfristigen, aber dichten Diskursgemeinschaft. Die Intensität der Diskussion war ein Indikator für diese transdisziplinäre Vergemeinschaftung, die in dieser Konferenz gelang.
Ein ausführlicher Bericht über die Konferenz erschien am 26.11.2007 in der Wissenschaftssendung des österreichischen Radiosenders Ö1.
Eine Auswahl der Beiträge aus beiden Konferenzen wird in einem Sammelband publiziert.
Berthold Unfried, Dezember 2007
Überblick
Veranstaltet von:
International Conference of Labour and Social History (ITH), Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Gesellschaft für Sozialgeschichte, in Kooperation mit dem Renner-Institut
Mit freundlicher Unterstützung von Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Kulturamt der Stadt Wien und Österreichischer Forschungsgemeinschaft
Konferenzsprachen:
Deutsch, Englisch
Veranstaltungsort:
Renner-Institut, Europasaal (Gartenhotel Altmannsdorf, A-1120 Wien, Österreich)
Inhaltliche Konzeption
Zugang und Zielsetzungen
Transnationale Netzwerke sind gegenwärtig eines der Hauptgebiete der Globalisierungsforschung in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Sie werden als ein Hauptvektor der Globalisierung von Wissen, Normen, Einstellungen, kulturellen Praktiken und Lebensstilen analysiert. Das Thema wird von gegenwärtigen weltweiten („globalen“) Entwicklungen der Weltwirtschaft, von Gesellschaft und Politik vorgegeben. Es sind Theoretiker dieser unter dem Schlagwort „Globalisierung“ zusammengefassten Entwicklungen, die fluktuierende Netzwerke als die Organisationsform eines dynamischen „space of flows“ (Manuel Castells) in die Diskussion gebracht haben.
Die Untersuchung transnationaler Netzwerke in historischer Perspektive ist notwendiger-weise transdisziplinär. Dazu ist von einer soziologischen, politikwissenschaftlichen, historischen, politökonomischen und globalisierungsforscherischen Perspektive etwas zu sagen.
Netzwerke sind informeller, fluider, weniger verfestigt als Organisationen. Netzwerke stehen mit der Welt nichtstaatlicher Organisationen, die in Zeiten der Expansion einer deregulierten Weltwirtschaft („Globalisierung“) prosperieren, in engem Zusammenhang, doch sind sie nicht ident mit ihnen. Formell strukturierte Organisationen können als sichtbare, verfestigte Knotenpunkte von Netzwerken gesehen werden. Netzwerke richten den Blick auf Interaktionen unter Bedingungen grundsätzlicher räumlicher Distanz. Der Begriff hat daher in der Globalisierungsdebatte, in der es um Phänomene von Enträumlich-ung und weltweiter Vernetzung geht, Konjunktur gewonnen.
Auch der Begriff „transnational“ soll gegenüber den Begriffen: international oder multinational eine neue Qualität der Verflechtung ausdrücken, die aus dem Raum des Nationalstaats herausgehobene, globale Organisationen und Netzwerke schafft, die eigene „transnationale Räume“ ausbilden. Solche Organisationen, Personen und die Netzwerke, die sie verbinden, wären nicht sinnvoll einem oder mehreren Nationalstaaten zuzuordnen, sondern entzögen sich einer solchen Verortung.
Die Tagung soll einen Überblick über Forschungen geben, die transnationale Netzwerke untersuchen, primär, aber nicht ausschließlich in einer historischen Perspektive. Um den Rahmen fest genug zu fassen, dass er die Beiträge zusammen hält, sollen diese zeitlich nicht vor das 20. Jh. fallen. Welche Formen transnationaler Netzwerke gab es in der jüngeren Geschichte und wie ist ihr Beitrag zu der Globalisierung von politischen Vorstellungen, von Lebensformen, von kulturellen Praktiken und von Aktionsformen einzuschätzen? Wie funktionierte Kommunikation in diesen Netzwerken, wie wird Wissen, wie werden Normen und Einstellungen in ihnen erzeugt und verbreitet, auf welche Weise werden solcherart Einfluss und Macht ausgeübt? Welche Verknüpfungsformen von Organisationen und Individuen sind zu beobachten? Wo sind personelle und organisatorische Knotenpunkte transnationaler Netzwerke auszumachen und wo sind sie räumlich angebunden?
Diese Fragestellungen implizieren einen Blick auf die Individuen, die solche Netzwerke ausbildeten und auf ihre Einbindung in die Netzwerkstruktur. Individuen wie organisationsförmig verfestigte Knotenpunkte von Netzwerken können als Akteure der Globalisierung gesehen werden. Die Verwendung der Begrifflichkeit „Transnationale Netzwerke“ bedeutet also, Versuche einer tendenziell weltweiten Verbreitung von Werten, kulturellen Praktiken und Lebensformen in den Blickpunkt der Forschung zu nehmen.
In Netzwerken zirkulieren Menschen und in Netzwerken zirkulieren Ideen, Einstellungen, Vorstellungen, ohne dass sich die Menschen, die sie verbreiten, selbst räumlich bewegen müssen.
Diese einfache Unterscheidung soll eine Strukturierung der Tagung abgeben:
Netzwerke, die in erster Linie Menschen bewegen bzw. andersherum definiert, die in erster Linie durch die Zirkulation von Menschen entstehen, sollen von solchen Netzwerken abgesetzt werden, die in erster Linie Werthaltungen, Konzepte, Vorstellungen über diverse Medien zirkulieren lassen, bzw. die durch die mediale Zirkulation solcher Vorstellungen und Werthaltungen entstehen.
Eine zweite Strukturierung sollte einer Zuordnung zu kulturellen Sphären und zu machtpolitischen Logiken folgen.
Der Begriff „transnational“ soll nicht verhüllen, dass Netzwerke mit einem solchen Anspruch meist doch gut verortbar sind. Auch transnationale Netzwerke haben ein Zentrum und eine Peripherie. Die rapide Zunahme transnational operierender nichtstaatlicher Organisationen und Netzwerke korrespondiert mit der „Globalisierung“ einer Wirtschaft, die sich der Regulierung der Staaten entzieht. Die Zentralen der „Nichtregierungsorganisationen“, die heute mit transnationalem Anspruch und mit transnationaler Identität operieren, sind in den globalen Machtzentren, in Zentren der Weltwirtschaft. Die Werte und Praktiken, die sie verbreiten, sind mit den Werten und Praktiken dieser Machtsphären grundsätzlich kompatibel, wenn diese dort auch zum Zeitpunkt ihrer Verbreitung oft nicht mehrheitsfähig sind. Die Historiker und sonstigen Wissenschaftler, die „transnational“ forschen, ihre Forschungsstrukturen, die Institute und Financiers sitzen ebendort. Die Geschichte radikal alternativer, weil kulturell substanziell differenter Netzwerke, wird daher in aller Regel eine Verarbeitung aus dem Blickpunkt dieser „Zentren“ sein. Die Tagung will nichtsdestotrotz versuchen, auch solche Netzwerke „radikal alternativer Herausforderung“ zu untersuchen, deren Zentren nicht identisch mit den Zentren globaler Machtausübung waren und sind.
Einer dritten Einteilung nach Organisationsformen und nach Tätigkeitsfeldern folgend können Netzwerke in folgenden Zusammenhängen untersucht werden:
• Internationale Organisationen
– kirchlicher Orientierung: Missionsorden und Sekten, die als Prototyp netzwerkbildender weltumspannender Organisationen gelten können
– die Welt der Bretton Woods-Institutionen Weltbank und Währungsfonds, im Weiteren der multilateralen Organisationen als organisatorischer Rahmen für die Ausbildung transnationaler Eliten und eines transnationalen Raums weltweit umsetzbarer Expertise
• Internationale soziale Bewegungen: Internationale Organisationsformen der Arbeiterbewegung von lockeren Zusammenschlüssen wie der 2. Internationale bis zu Versuchen weitgehender Steuerung einer „Weltpartei“ in der Komintern; heute „Anti“- oder „Alter-Globalisierungsbewegung“
• Von transnationalen Lobbygruppen ausgehende Netzwerke: so genannte advocacy networks, die sich zum Advokaten eines bestimmten Anliegens machen: Attac, Global, bis zu internationalen jüdischen und islamischen Organisationen, aber auch politik- und einflussorientierte epistemische Gemeinschaften wie die Mont Pélérin Society, think tanks, die sich in ihrer Eigenschaft als Organisatoren von Wissenstransfer mit der folgenden Gruppe überschneiden:
• Transnationale intellektuelle Netzwerke als Organisatoren von Wissenstransfer („epistemische Gemeinschaften“/Wissensgemeinschaften)
• Konsulentennetzwerke (Politik- und Wahlkampfberater, Wirtschafts- und Finanzkonsulenten, Entwicklungsexperten, Experten in globaler Moral, die korrektes Verhalten definieren und zertifizieren, Historiker als Experten in historischer Moral)
• Migrationsnetzwerke aller Arten von temporären und dauerhaften Expatriates und Diasporas: von Mobilitätsnetzwerken von Arbeitern bis zu transnational zirkulierenden Eliten
• Netzwerke multinationaler Konzerne, transnational operierender Unternehmen
Programm
Veranstaltungsort: Gartenhotel Altmannsdorf, Hotel 2 (Neubau), Europasaal, Oswaldgasse 69/Ecke Hoffingergasse, A-1120 Wien, Österreich
Internationale wissenschaftliche Tagung, veranstaltet von der International Conference of Labour and Social History (ITH), dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien und der Gesellschaft für Sozialgeschichte, in Kooperation mit dem Renner-Institut. Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung, des Kulturamts der Stadt Wien und der Österreichischen Forschungsgemeinschaft.
Vorbereitungskomitee
Marcel van der Linden (Koordinator, IISG Amsterdam), Angelika Ebbinghaus (Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bremen), Feliks Tych (Jüdisches Historisches Institut, Warschau), Berthold Unfried (ITH & Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Univ. Wien), Eva Himmelstoss (ITH)
Konzeption
Wenn wir auf die 68er-Protestbewegungen zurückschauen, haben wir einen Zeitkorridor von Mitte der sechziger bis zur Mitte der siebziger Jahre im Blick. Denn die sozialen und politischen Protestbewegungen lagen weltweit fast überall deutlich vor 1968 und ebbten erst Ende der siebziger Jahre endgültig ab. „1968“ steht für die weltweiten Sozialbewegungen, die sich durch eine spezifisch „jugendliche“ Mentalität, Kultur und Lebensweise auszeichneten und deshalb klassen- und schichtenübergreifend wirksam waren. Die soziale Zusammensetzung dieser Sozialbewegungen variierte von Ort zu Ort und von Land zu Land.
Diese Sozial- und Emanzipationsbewegungen, die in einigen – insbesondere nicht europäischen – Ländern den Charakter von Sozialrevolten annahmen, waren ein internationales Phänomen. Sie waren vernetzt, nahmen einander als Beispiel oder traten auch nur zur selben Zeit auf. Sie reichten von den Metropolen des kapitalistischen Weltsystems und den „drei Kontinenten“ (Che Guevara) bis in das System des Staatssozialismus. Auf dieser Tagung wollen wir vor allem auf außereuropäische Erfahrungen fokussieren und einen Schwerpunkt auf transnational und transkontinental vergleichende Analysen legen.
PROGRAMM
Idee & Konzept: Berthold Unfried
Freitag, 16. November 2007
12.00 – 19.00 Uhr:
Anmeldung der TeilnehmerInnen im Gartenhotel Altmannsdorf, Hotel 2, Europasaal
14.00 Uhr:
Eröffnung der Konferenz
Karl Duffek (Karl Renner-Institut)
Josef Ehmer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien)
Berthold Unfried (International Conference of Labour and Social History)
14.30 – 15.30 Uhr:
SITZUNG I (Begriffe und Konzepte)
Vorsitz: Berthold Unfried
Johannes Paulmann (Historisches Institut, Universität Mannheim): National, international, transnational: Umrisse einer Kritik der transnationalen Ökumene
Kommentar: Jürgen Mittag
Christoph Boyer (Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte, Universität Salzburg): Über Nutzen und Nachteil des Historikers für die Netzwerktheorien
Kommentar: Wolfgang Neurath
16.30 – 17.00 Uhr: Pause
17.00 – 19.00 Uhr:
SITZUNG II (Migration von Ideen, Normen und Praktiken)
Vorsitz: Josef Ehmer
Kees van der Pijl (University of Sussex): Transnational Classes and the Structure of the Global Political Economy
Kommentar: Karin Fischer
Ariel Colonomos (CNRS/Centre d’études et de recherches internationales, Paris): „Normativists in Boots“: Lawyers and Ethicists in the Military
19.30 Uhr: Abendessen
Samstag, 17. November 2007
9.00 – 13.00 Uhr:
SITZUNG III (Migration von Ideen, Normen und Praktiken)
Vorsitz: Johannes Paulmann
Sebastian Schüler (Seminar für Allgemeine Religionswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Die Transnationalisierung globaler Heilsgüter am Beispiel der Pfingstbewegung
10.00 – 10.15 Uhr: Pause
Giuliana Gemelli (Dipartimento di Discipline Storiche, Università di Bologna): Academic networks as drivers of European scientific integration: the role of the Ford Foundation in shaping the agenda of political sciences
Maria Mesner (Stiftung Bruno Kreisky Archiv, Wien): Global Population Policy: Emergence, Function and Development of a Network
13.00 Uhr: Mittagspause
14.30 – 18.30 Uhr:
SITZUNG IV (Personenzentrierte Netzwerke; Wissenstransfer durch Konsulentennetzwerke)
Vorsitz: Karin Fischer
Markus Kaiser (Department for Comparative Sociology, Faculty of Sociology, State University of St. Petersburg): Networks of Local and Global Experts in Development: Epistemic Machineries in a Global Context
Kommentar: Berthold Unfried
Dieter Plehwe (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Abteilung Internationalisierung und Organisation): The transnational neoliberal Mont Pèlerin Society network of intellectuals and think tanks and transnational discourse structuration: Revisiting the „Washington Consensus“
17.00 – 17.30 Uhr: Pause
Therese Garstenauer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien): Transnational networks: Im/Possibilities of Exchange between Soviet and ‚Western‘ scholars
19.00 Uhr: Abendessen
Sonntag, 18. November 2007
9.00 – 12.30 Uhr:
SITZUNG V (Migration von Menschen)
Vorsitz: Christoph Boyer
Josef Ehmer & Annemarie Steidl (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien): Networks in the history of migrations
Michael Twaddle (Centre of African Studies, University of London): Indian migration networks in East Africa
Jean-Baptiste Meyer (Institut de Recherche pour le Développement, Montpellier): Diaspora Knowledge Networks: New Social Entities, New Policies
13.00 Uhr:
Schlussdiskussion: Nutzen und Nachteile eines Zugangs zur Geschichte der Globalisierung über Netzwerke
14.00 Uhr: Ende
Abstracts
Christoph Boyer (Lehrstuhl für Europäische Zeitgeschichte, Universität Salzburg)
Über Nutzen und Nachteil von Netzwerktheorien für die Geschichtswissenschaften
Netzwerktheorien sind aus den technischen Disziplinen und aus der allgemeinen Systemtheorie, aus den Naturwissenschaften, aus Ökonomie und Soziologie zunehmend auch in die Geschichtswissenschaft „hineingewandert“. Die einschlägige Forschung hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten stark verdichtet und ausdifferenziert; sie hat damit allerdings auch eine „Modewelle“ hervorgerufen. Häufig wird, gerade in kulturwissenschaftlichen Forschungskontexten, der Netzwerk-Begriff vage und ausufernd, metaphorisch oder mit unreflektiert-normativer Färbung verwendet (Netzwerk als „gute“, weil angeblich nichthierarchische Form der Vergesellschaftung) oder als theoretischer Passepartout überschätzt.
Erforderlich ist deshalb eine Prüfung der Leistungskraft des Konzepts sine ira et studio – zum einen als Kategorie der Beschreibung, zum anderen als Explanans in weitergreifenden theoretischen Kontexten. Netzwerke werden dabei aufgefasst als spezifische Agenturen der Vergesellschaftung, angesiedelt zwischen Markt und Hierarchie, mit „mittlerem“ Grad der „Formalität“ und Stabilität. Grundlage der Vernetzung ist die Ressource „Vertrauen“, (Selbst-) Organisationsprinzip ist die Horizontalität lose gekoppelter Akteure. Netzwerke erbringen, so die These, eine spezifische Variante von Kommunikations-, Ordnungs- und Steuerungsleistungen; generell dienen sie eher der Kontingenzbewältigung bzw. der ad-hoc-Kompensation von Markt- bzw. Organisationsversagen als strategischer Langzeitplanung.
Die Prüfung der Tauglichkeit dieses Konzepts bzw. Theorems (auch der theoretische Status wird präziser zu bestimmen sein) soll sowohl generell wie auch speziell, d.h. im Blick auf die Geschichtswissenschaft erfolgen. Anders gefragt: Welche historischen Entitäten sind mit Gewinn als Netzwerke konzeptualisierbar? Zu prüfen ist dies sowohl auf der Mikro-Ebene (z.B. zwischenbetriebliche Beziehungen, in sozialen Milieus) wie auch auf der Makro-Ebene (Netzwerke etwa als spezifische Form der Organisation politischer Macht). Im Blick auf das Konferenzthema wird der Brauchbarkeit des Konzepts in über- und transnationalen Kontexten spezielles Augenmerk gewidmet.
Ariel Colonomos (CNRS/Centre d’études et de recherches internationales, Paris)
„Normativists in Boots“: Lawyers and Ethicists in the Military
War making has several unexpected outcomes. Among them, the development of a new kind of expertise in the field of law and ethics: „normativists in boots“, lawyers and ethicists, who are „embedded“ with the different corpses of the US military. These professionals produce their own expertise, ultimately they help the State and the military to justify their use of force and they prevent lawsuits and moral bashing from altering the State’s margin of maneuver. These „national“ (or nationalistic) networks focus on the definition of international justice. They are confronted to other normativists, transnational activists that operate within civil society and network transnationaly and most often belong to the human rights community. What is the outcome of this clash of virtues? Does the State have the „upper hand“ in norms making? Does this interaction favor the development of new rules of war more adapted to the current situation of asymmetrical warfare?
Josef Ehmer & Annemarie Steidl (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien)
Networks in the history of migrations
The concept of „networks“ has been widely used in recent historical studies of migration. Usually it concerns personal relations among migrants as well as between migrants and non-migrants on a local, regional and trans-national level. The concept appears particularly fruitful in respect to temporary labour migrations of the early modern period. The paper discusses networks in some wide-spread early modern types of migration such as seasonal labour migration, peddling, transhumance, drove, and tramping systems of journeymen. The focus is on the respective basic social relations within networks, such as family and kinship, common local or regional origin, ethnicity and religion, as well as institutions such as guilds.
Therese Garstenauer (Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien)
Transnational networks: Im/Possibilities of Exchange between Soviet and ‚Western‘ scholars
My paper deals with mutual reception, transfer and exchange between Soviet and ‚Western‘ scholars (mainly social scientists and historians) in the 1960s – 1980s. Soviet social sciences were reinstated in the late 1950s after a break of about 30 years. There was interest in communicating with the international scholarly community, but it was only feasible under specific conditions. I will ask in how far international exchange was possible at all, with what opportunities and impediments. I will investigate these questions by performing citation analyses (especially with regard to the appearance of ‘Western’ authors in Soviet publications), analyses of participation in international conferences, joint publications and research projects. The basis for this analysis are contemporary publications as wall as (auto)biographical writings of and about Soviet scholars. Apart from my concrete research focus, I would like to tackle the question if networks are useful as exploratory and explanatory tools for studies in history of science.
Giuliana Gemelli (Dipartimento di Discipline Storiche, Università di Bologna)
Academic networks as drivers of European scientific integration: the role of the Ford Foundation in shaping the agenda of political sciences
In the framework of the Ford Foundation’s policies in Europe during the softer phase of the Cold war, the creation of research networks was considered a crucial complement to the narrow and formalistic training that dominated educational programs in European universities and a basic framework to enhance the circulation of new talents in the European continent. The aim was to produce fresh research and increase not only the link between European and American institutions but also among European scholars and academic networks. The goal was also the creation of effective links between intellectuals, administrators and political representatives in the European countries as drivers of integration and dissemination of a new agenda whose aim was the dissemination of a new paradigm in political and social sciences as well as the lowering of the role of „old“ elites of power, particularly lawyers. Traditionally in Europe as well as in other parts of the world lawyers were the main players in the relations between academic and political power.
This goal emerged in the Ford Foundation’s agenda after a period of attempts – and to some extent confusing experiments – to attract European intellectual and professional elite through the diffusion of values which were typical of the warmest phase of the cold war. The Fifties were the period during which American Foundations started to play the role of attractors vis-à-vis a new emerging elite of social and academic scholars and scientific entrepreneurs who identified the American models with the process of modernisation of European societies after World War II.
The paper will analyze comparatively the opportunities and the constraints in the emerging role of epistemic communities with a specific focus on political and social sciences, using the American Foundations grant-making policies as a „window“ to analyze the behaviour of the institutional actors.
Markus Kaiser (Department for Comparative Sociology, Faculty of Sociology, State University of St. Petersburg)
Networks of Local and Global Experts in Development: Epistemic Machineries in a Global Context
Networks of local and global experts constitute a new figuration of global knowledge in societal change, development and transition inducing development through the access to knowledge. A new global knowledge architecture is emerging. Knowledge has become a decisive and competitive resource for local and global development, especially since the paradigm ‚knowledge for development‘ was set off and promoted by the World Bank in 1998/99. Development organisations and development experts are central actors in producing and steering global knowledge by using novel management structures.
The new knowledge networks evolve on the basis of modern Information and Communication Technology (ICT). The technologically supported social networks help to bridge the knowledge gap between developing as well as countries in transition and industrial countries by closing the knowledge and digital divide. Development experts being located in the various regions of the world have established a transnational epistemic community and play a strategic role in knowledge sharing. Within its electronic modification, knowledge is moderated, codified and standardized to facilitate distribution and possible acquisition. Experts formerly working in the global South moved on to the countries in transition bringing in the global concepts as for example market behaviour, business plan development and global (training) tools like CEFE (Competency based Economy Formation of Enterprises).
The culture of planning and of knowledge production within development organisations is gradually changing. A homogenisation of knowledge in development cooperation takes place while paying attention only to consumable local knowledge esp. in countries in transition. Locally learned experiences are brought in and validated by the lessons learned and evaluation machinery in an unchallenged project or programme context. Disturbing news or experiences or voices are ignored and in the context of countries in transition often devalued as Soviet, as old knowledge. However, the plurality of local cultures continues to persist.
Maria Mesner (Stiftung Bruno Kreisky Archiv, Wien)
Global Population Policy: Emergence, Function and Development of a Network
In using the Rockefeller philanthropy and the Ford Foundation as case studies my presentation traces down the development of the „population“ network, identifies the various actors‘ motivating attitudes and tenets as well as their strategies to achieve their ends. By focusing on ruptures and contradictions within philanthropic foundations as well as between foundations and other groups I will ask how the networks adapted to a changing environment. I will discuss the preconditions for the shift in paradigms which occurred in the 1950s and 1960s and will scrutinize the links and relations between groups of actors which made the population network viable and functioning.
Jean-Baptiste Meyer (Institut de Recherche pour le Développement, Montpellier, France)
Diaspora Knowledge Networks: New Social Entities, New Policies
The diaspora knowledge networks (DKN) – associations of highly skilled expatriates willing to contribute to the development of their origin countries – have emerged in the 1990s. They provide a new option with regards to 3 policy areas: Innovation/S&T, Migration and Development/Cooperation, for both the North and South.
A new actor in the recent and developing transnational arena, DKNs have been received with some suspicions, doubts and even criticisms on their real, effective ability to perform a development role.
Recent evidence convincingly dismisses excessively sceptical approaches and shows the actual and potential importance of such kind of networks. They are numerous and many of these, especially in Asian cases, have had an outstanding positive effect. A survey of existing visible DKN and historical analysis on the Indian IT growth and expansion do show the original and irreplaceable developmental action of these networks.
However, the experience also shows the erratic activities, limited results and precarious life of many DKN. This fact does question the dynamics of such networks: do they have autonomous effects or are they strictly context dependent? What are the market and/or policy impacts on their developments?
This presentation draws on the history of intellectual networks and of transnational academic connections as well as on diaspora studies. It also uses concepts of the actor/network sociology to explore the way that action shapes the context and therefore results of transnational activities and relations in the making.
In the process of building sustainable diaspora networks, traditional entities – such as state, national organisations, public local institutions as well as firms, NGOs and intergovernmental organisations – may be involved. They can find there a new field of expansion and the reproducibility of some DKN‘ successes is a challenge for all.
Johannes Paulmann (Historisches Institut, Universität Mannheim)
National, international, transnational: Umrisse einer Kritik der transnationalen Ökumene
Die Allgegenwärtigkeit des Transnationalen in der aktuellen Geschichtswissenschaft fordert zu einer kritischen Auseinandersetzung heraus. Die Bezeichnung „transnational“ wird häufig austauschbar mit anderen Begriffen benutzt: international, kosmopolitisch, weltumspannend oder global. Oder sie dient lediglich als attraktive Bezeichnung, mit deren Hilfe „irgendwie“ grenzüberschreitende Phänomene als bedeutsam markiert werden sollen.
Der Vortrag zeigt im ersten Teil die verschiedenen Wege, die in die transnationale Geschichtsschreibung geführt haben. In Deutschland waren dabei andere Forschungsbereiche maßgeblich als in der außerdeutschen Geschichtsschreibung. Der Beitrag erläutert, warum der scheinbar neue Zugang auf viele Gruppen und Richtungen so anziehend wirkte. Eine Rolle spielten Gegenwartserfahrungen, wissenschaftspolitische Positionen und historiographische Debatten. Nicht zuletzt erwies sich auch gerade die unscharfe Begrifflichkeit als Vorteil.
Der zweite Teil des Vortrags zeichnet die Umrisse einer Kritik an der transnationalen Ökumene. Manche Historiker stehen dem Transnationalen grundsätzlich skeptisch gegenüber, weil sie den Nationalstaat für den entscheidenden lebensgeschichtlichen Bezugsrahmen halten. Weniger prinzipielle Kritiker helfen durch ihre Einwände, die Grenzen einer transnationalen Geschichtsschreibung zu bestimmen. Diese liegen zum einen darin, dass der gewählte Zugang die Analysekategorien mehrfach vorbestimmt. Ferner bleibt das Verhältnis zu den Bereichen ungeklärt, die nicht transnational determiniert waren. Schließlich muss über die historischen Narrationen reflektiert werden, in die transnationale Erscheinungen eingeordnet werden.
Der dritte Abschnitt stellt Möglichkeiten vor, wie soziales Handeln in Bereichen jenseits der Nationalstaaten untersucht werden kann. Ein besonderes Anliegen ist es, die Mikroebene der Akteure mit den strukturellen Bedingungen in sogen. Grenzräumen systematisch zu verbinden. Ob es so gelingt, eine überzeugende transnationale Geschichte zu schreiben, muss die Praxis zeigen.
Dieter Plehwe (Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Abteilung Internationalisierung und Organisation)
The transnational neoliberal Mont Pèlerin Society network of intellectuals and think tanks and transnational discourse structuration: Revisiting the „Washington Consensus“
„Washington Consensus“ (WC) politics emphasizing fiscal restraint, privatization, deregulation, and financial liberalization during the 1990s are frequently considered to reflect the imposing power of Washington based global financial institutions, and ultimately of the United States as the remaining superpower after the collapse of the Soviet Union. Debt ridden Latin American governments are remembered to by and large have had to operate under conditions of increasingly severe external constraints, which left them with no alternative to open their economies up to the global market, and with few opportunities to influence the harsh conditionality attached to international lending during and after the „lost decade“ of the 1980s. The new policy agenda led to rapid de-nationalization of public sectors and domestic economies in support of corporate globalization, and to rising unemployment and poverty in many countries. Following the Zapatista up rise against NAFTA in 1994, a growing opposition against corporate globalization blamed rapidly increasing inequality in Latin America on the WC priorities, which were held to epitomize Western neoliberalism, expressive of the hegemonic interests of the North, and the United States and her giant corporations in particular. Although such a perspective captures some (state centred) dimensions of the prevailing hierarchy in the power relations between the North and the South in general, and between the U.S. and Latin America in particular, a closer examination of the transnational neoliberal networks of intellectuals and the discourse coalition sustaining the WC yields a more comprehensive perspective. The intellectual and political responsibilities for WC politics are shared by Southern domestic and by transnational social forces. A closer examination of the transnational neoliberal discourse community and coalition suggests that transnational networks of intellectuals and think tanks in particular have yet to be understood as a powerfully institutionalized agency at both supranational and national levels due to their transformative capacities both in academic and policy research. The intellectual roots of the transnational neoliberal discourse coalition sustaining WC politics can be traced to the comprehensive neoliberal discourse community of the Mont Pèlerin Society (MPS), a well organized global network of neoliberal intellectuals and think tanks.
Sebastian Schüler (Seminar für Allgemeine Religionswissenschaft, Westfälische Wilhelms-Universität Münster)
Die Transnationalisierung globaler Heilsgüter am Beispiel der pfingstlich-charismatischen International Church of the Foursquare Gospel
Kulturelle, technische und ökonomische Globalisierungsprozesse des 20. Jahrhunderts, sowie gesellschaftliche Pluralisierungsprozesse von Lebensstilen und Weltanschauungen haben auch den Blick auf ‚Religion‘ verändert. Die so genannte „Pentecostalization“ kann als Beispiel religiöser Globalisierung genannt werden. Spätestens seit Max Weber umschreiben religionswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Analysen von Religion Prozesse und Strategien der Transnationalisierung mit Hilfe religionsökonomischer Theorien und Methoden. Glaubenssysteme und religiöse Weltanschauungen können daher in Anschluss an Pierre Bourdieu als Heilgüter verstanden und unter marktökonomischen Bedingungen untersucht werden. Bestimmte konfessionelle Ausrichtungen wirken wie Heilsprodukte oder sogar Marken, die vertrieben werden können und dem gesellschaftlichen und individuellen Kontext angepasst werden müssen.
In diesem Vortrag sollen Strategien der Vermarktung von Heilsgütern am Beispiel einer spezifischen pfingstlich-charismatischen Denomination (ICFG) in Geschichte und Gegenwart nachgegangen und dabei Spannungen des religiösen (und ökonomischen) Feldes im Prozess der Transnationalisierung ausgelotet werden. Religiöse Heilsgüter sind (oftmals und vor allem im evangelikalen Bereich) globale Produkte, die für einen globalen Markt (zur Errettung aller Menschen) bestimmt sind. Ähnlich wie bei Konsumgütern (globale Marken) müssen auch globale Heilsgüter vor Ort wieder relokalisiert werden, um sie dem spezifischen lokalen Markt anzupassen. Zunächst soll dieser These Rechnung getragen werden, indem Voraussetzungen und Verhältnisse von Orthodoxie und Heterodoxie am Beispiel der ICFG aufgezeigt werden. Ausgehend von religionsökonomischen Prozessen der Transnationalisierung sollen dann Konflikte im religiösen Feld ausgemacht werden, die das Verhältnis von lokalem Markt und globaler Marke beschreiben. Hierzu soll einigen Beispielen des Umgangs mit religiösen „Gütern“ (Legitimation religiöser Sprache und Handlungen, Geistgaben, Devotionalien, religiöse Ausbildung, usw.) in unterschiedlichen religiösen und subkulturellen Milieus nachgegangen werden. Von weiterem Interesse ist dabei die Frage nach Strategien der Multiplikation und Ausbreitung religiöser Heilsgüter im transnationalen Raum. Wie also verstehen sich lokale Gemeinden als „Vorposten“ neuer Gemeindegründungen in anderen Regionen und Nationen. Ebenfalls von Interesse scheint mir dabei die Rolle der christlich-charismatischen Identitäts- und Netzwerkbildung und die dabei entstehenden „inneren“ und äußeren Aushandlungsprozesse und das pfingstlich vereinigende Selbstverständnis der Gläubigen in Bezug auf das globale wie lokale Feld. Der Prozess der Transnationalisierung von Heilgütern könnte daher anhand eines Dreischritts von der Entstehung einer globalen Heilsmarke über die Relokalisierung vor Ort und die erneute Translokalisierung unter globalen Prämissen beschrieben werden.
Michael Twaddle (Centre of African Studies, University of London)
Indian migrational networks in East Africa
Chronologically, this paper attempts to cover Indian migrational networks during the eras of
1. archaic globalization
2. free trade imperialism in the late eighteenth and for much of the nineteenth centuries
3. European colonial administration in the late nineteenth century and the first half of the twentieth century
4. the first years of national sovereignty in the 1960s and 1970s, and
5. the era of neo-liberal hegemony maintained by the Washington consensus.
Analytically, an attempt is also made to distinguish between structural constraints upon migrational networks in East Africa and responses by Indian migrants in each of these eras.
Kees van der Pijl (University of Sussex)
Transnational Classes and the Structure of the Global Political Economy
My argument in this contribution is based on the idea that the global political economy since more than a century has evolved as a specific spatial constellation combining at least two different state/society. On the one hand, an originally Anglophone, integrated West made up of states sharing a liberal constitution and allowing their societies a considerable measure of self-regulation enshrined in civil law; on the other, a succession of relatively strong states organising their societies from above (with varying degrees of central planning and coercion). France, Germany, Japan and Italy, and the USSR, have been such rivals, or contender states, to the liberal West; China would be the key contender today.
Capital as mobile wealth competitively exploiting society and nature, emerged as an extra-territorial social force in the context of the liberal, ‚Lockean heartland‘. It profited historically from the structural free space and entry conditions prevailing in the Atlantic English-speaking world; the West has all along pursued global liberalism and created the spaces for capital to expand transnationally.
The global governance projected by the liberal West builds on the prior experience with informal, flexible forms of class rule operating behind the formal structures of parliamentary government. They were pioneered in the British Commonwealth and transmitted to the English-speaking world at large and to the European Union.
Terms like the West etc. are not empirical categories, let alone ‚actors‘. They denote fields of action in which the actually directive social forces, the ruling classes first of all, are constantly engaged in shaping a common orientation and direction; it is not given. It must be elaborated as an ideational constellation, what I call a ‚comprehensive concept of control‘ – a structural constraint supported by a particular configuration of classes and fractions of classes galvanising themselves behind a common strategic orientation, which then serves as the framework in which everybody defines their ‚interests‘. As Max Weber famously put it, ’not ideas, but material and ideal interests, directly govern men’s conduct. Yet very frequently the world-images that have been created by „ideas“ have, like switchmen, determined the tracks along which action has been pushed by the dynamic of interests‘.
The process of establishing and renovating the hegemonic consensus of the West is achieved through an infrastructure of informal networks, from business boardrooms to the more prestigious planning bodies. These bring together, in the private surroundings required to allow the expression of differences, key statesmen, media managers, and other ‚organic intellectuals‘ of the transnational capitalist class. In the contemporary world, the networks of interlocking directorates among the largest corporations, as well as the Bilderberg Conferences, the Trilateral Commission, the World Economic Forum, and a range of comparable bodies are active in this sense. As Gramsci recognised, transnational class networks ‚propose political solutions of diverse historical origin, and assist their victory in particular countries – functioning as international political parties which operate within each nation with the full concentration of the international forces‘.
In the paper I intend to develop one or more examples of how this actually works around some topical issue when the time comes.