46. Linzer Konferenz: Arbeiterbewegungen in globalen Erinnerungsprozessen

9.-12. September 2010, Linz

Konferenzberichte

Bericht von Ralf Hoffrogge (In: H-Soz-u-Kult, 02.11.2010)

Dass sich eine wissenschaftliche Konferenz mit der Erinnerung an die Arbeiterbewegung beschäftigte, ist keinesfalls als Nostalgie zu verstehen. Denn Erinnerung ist etwas sehr Gegenwärtiges, eine Rekonstruktion der Vergangenheit vor dem Hintergrund aktueller kultureller Konstellationen und politischer Kräfteverhältnisse. Seit den 1990er-Jahren hat die Geschichtswissenschaft diesen Doppelcharakter der Erinnerung als Vergangenheit in der Gegenwart entdeckt und setzt sich kritisch mit der Konstruktion und De-Konstruktion von Erinnerungen auseinander. Dies geschah sowohl auf individueller Ebene – etwa im Bereich einer Methodenkritik der Oral History, aber auch auf gesellschaftlicher Ebene in der Beschäftigung mit den Linien staatlicher Erinnerungspolitik und ihrer Wechselwirkung mit dem kollektiven Gedächtnis. Die Grenzen zwischen Intervention und Untersuchung sind hier erstaunlich fließend: unter den Begriff der „Aufarbeitung“ fällt sowohl die historische Analyse als auch die aktive Beeinflussung eines adäquaten Gedenkens und Erinnerns. In der Form der Aufarbeitung gilt eine parteiische Intervention seitens der Wissenschaft interessanterweise nicht als manipulativ oder unausgewogen, sondern als erstrebenswert.

Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die absolute Mehrzahl der zum Thema Erinnerung entstandenen Untersuchungen sich mit dem Phänomen des Holocaust beschäftigen, einige auch mit dem Stalinismus oder mit Nachwirkung des Kolonialismus. Die großen Menschheitsverbrechen und die Kategorien der Täter und Opfer, so das unerwartete Ergebnis einer Tagung zur Erinnerung an die Arbeiterbewegung, dominieren die Erinnerungskulturen. Aus der Distanz zu diesen Verbrechen definieren sich Identitäten – aus dieser Distanz heraus erklärt sich auch der eingreifende Charakter von Aufarbeitung und Erinnerungspolitik.

Die Täter-Opfer-Dichotomie, so machte bereits der Eingangsvortrag von Enzo Traverso klar, ist vielleicht die einzige Gemeinsamkeit in einer „globalen Erinnerungskultur“, sofern es diese überhaupt gibt. Denn abgesehen von dieser strukturellen Parallele ist das kollektive Gedächtnis etwas sehr Regionales, oft in geradezu anachronistischem Sinne Nationales. Vielleicht, so wurde auf der Konferenz diskutiert, sind es gerade die oft gescholtenen Phänomene der kulturellen Globalisierung, Vereinheitlichung, Verwestlichung, die den Rückgriff auf nationale Mythen und Identitäten für Regierende und Regierte als Akteure von Erinnerung gleichermaßen attraktiv machen.

In diesen Zusammenhang stellte Andreas Eckert die Abwesenheit der Arbeiterbewegungen in der Erinnerung und politischen Gegenwart Afrikas. Das Motiv der Nationalen Befreiung, so Eckert, eignete sich im antikolonialen Kampf und auch in der Gegenwart mehr für die Mobilisierung der Massen als das Narrativ des Klassenkampfs – insbesondere, weil etwa unter der französischen Kolonialherrschaft nur eine marginale Gruppe von Personen gesetzliche Anerkennung als Lohnarbeitende genoss, während die Mehrzahl der Bevölkerung Subsistenzarbeit verrichtete oder im informellen Sektor, etwa als Marktfrauen, formal selbständig war.

Im Gegensatz zur Abwesenheit der Arbeiterbewegung in der afrikanischen Erinnerung berichtete Bruno Groppo, wie in Italien und Frankreich die kommunistische Arbeiterbewegung in Form der Partisanenbewegung positiv in eine nationale Erinnerungskultur integriert wurde. Als aktiver Teil eines antifaschistisch-republikanischen Konsenses, der ab 1945 in beiden Ländern alle politischen Parteien umfasste, legten die Kommunistischen Parteien beider Länder endgültig ihre Rolle als Außenseiter ab. Der Preis dieses nationalen Narrativs war jedoch die Ausblendung von weit verbreiteten Phänomenen der NS-Kollaboration in beiden Ländern. Hinzu kam in Italien die totale Negierung des genuin italienischen Charakters des Mussolini-Faschismus, der in der Erzählung vom nationalen Widerstand nur noch als ausländische Besatzung erschien. Ausgeblendet wurde auch die Zeit zwischen 1939 und 1941, als die kommunistischen Parteien mit Ausnahme weniger Einzelmitglieder aufgrund des Hitler-Stalin-Paktes keinerlei Widerstand organisierten. Trotz aller Ausblendungen falle auf, dass die Dekonstruktion des antifaschistisch-republikanischen Konsenses seit den 1980er-Jahren sowohl in Italien als auch in Frankreich nicht mit einem differenzierteren öffentlichen Geschichtsbild, sondern mit einem Anstieg von Rechtsextremismus und Nationalismus einhergingen. Insofern stellte Jürgen Kocka zurecht die Frage, ob Geschichtsmythen nicht auch eine positive Funktion zukommen könne.

Groppos Positivbeispiel einer Integration der Arbeiterbewegung ins nationale Gedächtnis bestätigte durch den Bezug auf den Faschismus die bereits formulierte Diagnose, dass der Klassenkampf als genuines Narrativ der Arbeiterbewegung im Regelfall für das nationale kollektive Gedächtnis nicht als „erinnerungswürdig“ erscheint.

Zwei Beispiele aus ganz unterschiedlichen Weltgegenden, nämlich Südkorea und Polen, lassen ähnliche Schlüsse zu. Aus Korea berichtete Hyun Back Chung von der Erinnerung an den Gewerkschafter Chun Tae-Il, der Anfang der 1970er-Jahre aus Protest gegen die Unterdrückung der südkoreanischen Arbeiterbewegung durch die Militärdiktatur den demonstrativen Freitod wählte. Sein Tod löste eine Protest- und Solidaritätswelle auch im Ausland aus. Im heutigen Korea erinnert man sich an Chun Tae-Il interessanterweise nicht als einen Märtyrer des Klassenkampfes, sondern er genießt in allen politischen Lagern eine Verehrung als Nationalheld und Kämpfer für Demokratie, dessen gewerkschaftlicher Hintergrund eben nur noch dies: einen Hintergrund darstellt. Ähnliches widerfuhr der Gewerkschaft Solidarnosc in Polen, über deren Platz in der Erinnerung Tomasz Kozlowski aus Warschau berichtete. Auch sie wurde unter Aufgabe bzw. Selbstaufgabe ihres Charakters als Klassen-Vertretung Teil eines erinnerungspolitischen Narrativs von Demokratie, vor allem aber von nationaler Befreiung.

Ähnlich wie Chun Tae Il in Südkorea erging es auch den Opfern der Diktaturen in Lateinamerika. Auch sie erscheinen in der nationalen Erinnerung, so berichtete Gerardo Leibner von der Universität Tel-Aviv, nicht als die Aktivisten sozialistischer Parteien, Bewegungen und Gewerkschaften, denen sie angehörten. Stattdessen erscheinen sie im kollektiven Gedächtnis einzig als passive Opfer von politischer Gewalt – obgleich es doch ihr aktives Eintreten für eine gerechte Gesellschaft war, welche diese mehrheitlich der politischen Linken zuzuordnenden desaparecidos erst ins Visier ihrer Mörder brachte.

Als zentrales Ergebnis der Konferenz wurde deutlich: Der Gegensatz von Opfer und Täter und die Erinnerungen an die großen Verbrechen des 20. Jahrhunderts treten immer wieder in Verbindung mit und in Konkurrenz zur Erinnerung an die Arbeiterbewegung. Selbst da, wo Personen oder Gruppen der Arbeiterbewegung kollektiv erinnert werden, wird ihrer in der Regel nicht als Klassenkämpfer gedacht, sondern als Opfer oder aber als Kämpfer für die Sache der Nation – also als Vertreter einer Einheit, die vermeintlich jenseits des Klassenwiderspruchs steht.

Obwohl es kein eigenes Panel dazu gab, stand auch der Stalinismus immer wieder im Mittelpunkt der Konferenzdiskussionen. Auch er wird selektiv erinnert, in Osteuropa überwiegend in nationalistischer Form ohne Differenzierung gegenüber der Erfahrung des Nationalsozialismus. Der Stalinismus wird dabei entweder durch eine verschwommene Form der Totalitarismustheorie gleichgesetzt mit dem NS – oder aber NS-Kollaborateure werden gar als Kämpfer gegen den Stalinismus rehabilitiert. Insbesondere letzteres Phänomen verweist auf die Abgründe, in die ein national instrumentalisiertes Täter/Opfer Schema führen kann.

Obwohl solche Entgleisungen nicht nur auf der Konferenz, sondern auch in den europäischen Medien immer wieder heftige Kritik auslösten, wird in dieser Kritik selten die spezifische Widersprüchlichkeit der stalinistischen Verbrechen deutlich. Sie liegt vor allem darin, dass Stalins erste Opfer die Oppositionellen der eigenen Partei waren. Dies waren mitunter Verfechter und Verfechterinnen eines demokratischen Kommunismus – nicht selten aber auch Funktionäre, die zuvor selbst an der Errichtung der stalinistischen Diktatur und der Verfolgung politischer Gegner mitgearbeitet hatten. Hier versagt die Dichotomie von Tätern und Opfern, welche die Mehrheit der nationalen Erinnerungskulturen prägt. Die Tatsache, dass die Arbeiterbewegung auf beiden Seiten stand, dass es ein widersprüchliches Verhältnis von Täter und Opfer gab, wird im öffentlichen Diskurs allenfalls dadurch abgebildet, dass die Sozialdemokratie als unbelasteter, der Kommunismus hingegen als verbrecherischer Teil der Bewegung erinnert werden. Diese Version, die auch auf der Konferenz mehrmals implizit vorgetragen wurde, bezieht sich jedoch letztlich wieder auf eine Täter-Opfer Dichotomie, die der Widersprüchlichkeit der konkreten historischen Ereignisse kaum gerecht wird. Vertiefende Forschungen hierzu wären wünschenswert.

Die Zivilisierung der bürgerlichen Gesellschaft als Verwirklichung der Ideale der Französischen Revolution ist ein Bezugspunkt, der auch rivalisierende Gruppen der Arbeiterbewegung immer wieder einte. Ein weiteres Band war die Parteinahme im Konflikt zwischen Arbeit und Kapital sowie zwischen imperialen Zentren und kolonisierter Peripherie. Diese Konflikte waren bzw. sind transnationale Phänomene. Deshalb, so stellten verschiedene Konferenzredner zu Recht fest, eignet sich die Arbeiterbewegung bzw. die verschiedenen Arbeiterbewegungen durchaus als Objekt einer Globalgeschichte und als Subjekt einer globalen Erinnerungskultur.

Warum dies jedoch in der Praxis nicht stattfindet, war zentrales Thema der Diskussionen. Einige Antwortmöglichkeiten deuteten sich an: wie bereits festgestellt wurde gibt es (noch?) keine „globale“ Erinnerungskultur. Die einzige globale Klammer einer Erinnerung am Beginn des 21. Jahrhunderts bildet die negative Erzählung vom „Jahrhundert des Schreckens“, was die Dominanz des Täter-Opfer-Dichotome in den jeweiligen nationalen Meistererzählungen erklärt. Dieser Dichotomie, so Jürgen Kocka in seiner Eingangsrede zur Konferenz, verweigert sich die Arbeiterbewegung durch ihre positiven und zukunftsorientierten Utopien. Ein weiterer Grund für die überwiegende Nicht-Erinnerung des zivilisatorischen Impulses der Arbeiterbewegung könnte sein, dass sie mit anderen historischen Ereignissen um die „begrenzte Ressource Erinnerung“ konkurrieren muss, wie ein Diskutant es treffend ausdrückte.

Zu wenig diskutiert wurden die Konsequenzen der weitgehenden Verstaatlichung von Erinnerungspolitik. Die Alternative zur nationalen Erinnerung wäre eine Bewegungs-Erinnerung. Angesichts der Brüche heutiger Akteure der Arbeiterbewegung mit ihren historischen Wurzeln und früheren Identitäten ist eine solche allerdings schwer vorstellbar. Neue Akteure wie die globalisierungskritische Bewegung haben zwar eine globale Perspektive, aber keine globale Identität oder Organisationsform. Sie sind vielmehr gekennzeichnet durch größtmögliche Heterogenität. Kategorien wie die „Multitude“ von Antonio Negri und Michael Hardt können diese Tatsache nur mühsam kaschieren, haben es aber bisher nicht vermocht, ein neues historisches Subjekt zu definieren. Seit Wolfgang Abendroths „Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung“, so stellte Mario Kessler aus Potsdam in seinem Beitrag zur Historiographie der Arbeiterbewegungen fest, gab es keinen überzeugenden Versuch mehr, eine überregionale Geschichte der Arbeiterbewegung zu schreiben.

Trotz vielfach negativer Ergebnisse auf die Frage nach der Erinnerung an die Arbeiterbewegung ist das Fazit der Konferenz jedoch kein Negatives. Die OrganisatorInnen der Konferenz haben wissenschaftliches Neuland betreten und eine enorme Lücke im „Erinnerungsboom“ der Geschichtswissenschaften aufgezeigt. Denn auch wenn die Arbeiterbewegung keinen prominenten Platz im kollektiven Gedächtnis einnimmt, so ist sie doch nicht vergessen. In Deutschland erinnern unzählige Straßennahmen an Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Friedrich Ebert, Kurt Schumacher, Ernst Thälmann. Auch in Westberlin gibt es eine Karl-Marx-Straße, in Trier ein Karl-Marx-Haus und in Hamburg eine Thälmann-Gedenkstätte. Die erinnerungspolitischen Debatten um diese Orte wären ein eigenes Thema, das spannende Erkenntnisse über die Gegenwart wie die Vergangenheit deutscher Erinnerungskultur liefern würde. Ähnliche Debatten gibt es in anderen Ländern. Jedoch wurden gerade die konkreten Niederungen der Erinnerung in Form von Denkmälern, Straßennamen und anderen Formen versteinerten Gedenkens auf der Konferenz leider nur gestreift. Was jedoch nicht wundert, denn eine intensive Forschung zu diesen Themen existiert nicht.

Was auf der Konferenz ebenfalls zu kurz kam, waren methodische Fragen der Erinnerungsforschung. Hier sind insbesondere auf dem Gebiet der Holocaustforschung intensive theoretische und empirische Vorarbeiten vorhanden – es wurde jedoch kein Versuch gemacht, Methoden und Ergebnisse dieser Forschungen auf das Phänomen der Arbeiterbewegung zu übertragen. Dies führte bei einigen Beiträgen etwa zur deutschen und österreichischen Sozialdemokratie zu einem Rückfall in eine Art von Hausgeschichtsschreibung, die man in der historischen Forschung zur Arbeiterbewegung eigentlich überwunden glaubte. Die nächste ITH-Konferenz im September 2011 wird sich dem Thema „Arbeiterbewegungen und soziale Bewegungen als Triebkräfte der Entwicklung von Gesellschaften und von Individuen“ widmen. Sie könnte dazu beitragen, die diagnostizierte Nicht-Erinnerung des zivilisatorischen Impulses der Arbeiterbewegung zumindest ein stückweit zu korrigieren.

 

Bericht von Jürgen Hofmann (Neues Deutschland, 18.9.2010, S. 22)
Stachel im Fleisch: Tagung über Arbeiterbewegung in der Erinnerung

Es waren erstaunlich viele junge Nachwuchswissenschaftler nach Linz in Österreich gekommen. Ein Zeichen, dass die Arbeiterbewegungsgeschichte nach wie vor auf Interesse stößt. »Arbeiterbewegung in der globalen Erinnerung« war das Thema der diesjährigen Linzer Tagung, der 46. Ob die jungen Kollegen allerdings dem Thema die Treue halten können, ist ungewiss. Die Schwerpunkte der Forschung und Lehre in West- und Osteuropa lassen daran zweifeln.

Fast übereinstimmend wurde die Verdrängung der Arbeiterbewegungsgeschichte aus dem Erinnerungskanon Europas beklagt. Ganz anders die Situation in Lateinamerika und Asien. Auch einzelne europäische Länder fügen sich nicht in den allgemeinen Trend ein, der vor Jahren schon einmal die Fortexistenz der Linzer Konferenz in Frage stellte. Das von etlichen Diskussionsteilnehmern bezeugte Interesse ihrer Studenten an Arbeiterbewegungsgeschichte lässt hoffen.

Seltsam dagegen mutet das Bedauern von langjährigen Lehrstuhlinhabern und Mitgliedern einflussreicher Kommissionen an der unzureichenden Präsenz von Themen der Arbeiterbewegung im öffentlichen Diskurs an. Man könnte meinen, Entscheidungsträger seien völlig hilflos dem Markt der Erinnerung ausgesetzt. Das Podium zum Verhältnis von Macht, Geschichte und Politik brachte jedenfalls keine befriedigende Aufklärung zur Rolle der Historiker in der Erinnerungspolitik.

Die Konferenzbeiträge waren weit gespannt. Sie reichten von dem Befund, dass die Arbeiterbewegung in der europäischen Erinnerung über das 20. Jahrhundert eher marginal vertreten ist (Jürgen Kocka), über den Platz der Résistance in der Erinnerung des Zweiten Weltkrieges in Frankreich und Italien (Bruno Groppo), dem Platz der »Mateship« – der Kumpelschaft – im Selbstverständnis der australischen Siedlergesellschaft (Nick Dyrenfurth), der Erinnerung an die Selbstverbrennung des 22-jährigen Chun tea-il in Südkorea (Hyun Back Chung) bis hin zur Solidarnosc in Polen (Tomasz Kozlowski). Für Mario Keßler (Berlin) bleibt die Arbeiterbewegungsgeschichte »ein Stachel im Fleisch derer, die den Staus quo als beste aller möglichen Welten ansehen«.

Die diesjährige Konferenz war der Auftakt eines Zyklus, der sich der Arbeiterbewegung und sozialer Bewegungen als Triebkraft sozialer Entwicklungen widmet. Ein Vorschlag, den Feliks Tych (Warschau) eingebracht hatte. Die nächste Tagung wird sich Ende September 2011 den »Arbeiterbewegungen und sozialen Bewegungen als Triebkräfte der Entwicklung von Gesellschaften und Individuen« zuwenden.

 

Bericht von Andreas Diers*, geringfügig ergänzt durch Bernd Hüttner (RLS online <www.rosalux.de>, 19.10.2010)

Die sogenannte Linzer Konferenz wurde wie üblich von der International Conference of Labour and Social History und der Kammer für Arbeiter und Angestellte Oberösterreich veranstaltet. An ihr nahmen ungefähr 80 Personen teil, davon kamen ein Zehntel aus der RLS und dem geschichtspolitischen Umfeld, in dem sie sich bewegt (u.a. Historische Kommission der LINKEN, Förderverein Archive und Bibliotheken zur Arbeiterbewegung). Die RLS ist seit einigen Jahren reguläres Mitglied der ITH.

Hintergrund und Zielsetzungen der Konferenz
Diese Konferenz ist die erste in dem neuen dreijährigen Tagungszyklus der ITH, in dem einige Aspekte der Problematik Arbeiterbewegung und soziale Bewegungen als Triebkräfte gesellschaftlicher Entwicklung behandelt werden.
Der Ausgangspunkt der diesjährigen Tagung ist die Frage nach dem Vorhandensein der Arbeiterbewegungen im Repertoire der Vergegenwärtigung von Vergangenheit („kollektive Erinnerung“) gewesen. In der schon fast unübersehbaren Flut an Debatten und Publikationen, welche der Aufstieg der Konzeption der „kollektiven Erinnerung“ in den letzten beiden Jahrzehnten ausgelost hat, ist die Rolle der Arbeiterbewegungen jedoch weitgehend nur ganz am Rande behandelt worden, zumeist wurde sie sogar überhaupt nicht thematisiert.
In der ITH-Konferenz ist an Hand einiger ausgewählter Beispiele untersucht worden, welche Erinnerungsmuster hinsichtlich der Arbeiterbewegungen in die „kollektive Erinnerung“ von welchem Akteur wann, wo, wie und weshalb ´eingespeist` worden sind. Dabei ist auch gefragt worden, welche Veränderungen diese Erinnerungsprozesse in den vergangenen Jahrzehnten erfahren haben. Thematisiert worden ist außerdem, ob in Europa möglicherweise die sozialen Emanzipationsbestrebungen im Mittelpunkt der Erinnerungen stehen und ob es die Beiträge der Arbeiterbewegungen mit ihren unterschiedlichen Strömungen gewesen sind, die zur Formierung von Sozialstaaten geführt haben und bei der Schaffung relativ homogener Gesellschaften in Europa eine wesentliche Rolle gespielt haben – oder ob ganz andere kognitive und affektive Denktraditionen die wesentliche Rolle innegehabt haben.
Auf der einen Seite ist der Blick auf einige der „Erinnerungen“ an die Arbeiterbewegungen sowie ein paar weiterer sozialer Bewegungen in einzelnen Staaten und Regionen sowie ihren jeweiligen Niederschlag im „Inventar globaler Erinnerung“ gerichtet worden. Auf der anderen Seite ist das Augenmerk auch auf erinnerungspolitische Strategien gelenkt worden, die diese Bewegungen selbst entwickelt haben.

Verlauf der Konferenz
(…) Das Eröffnungsreferat hielt am Freitag Enzo Traverso (Paris). Er ging ausführlich darauf ein, dass sich die hegemoniale Erinnerungspolitik in Europa von einer Sieger/Besiegte-Dichotomie zu der des Verhältnisses Täter/Opfer verschoben habe. Unter der zweiten Dichotomie seien dann, so Traverso, auch die drei zeitgenössischen Hauptstränge zu subsumieren: Holocaust, Stalinismus und Postkolonialismus.

Nach einer Einführung in den neuen Tagungszyklus der ITH und in das aktuelle Programm behandelte Jürgen Kocka (Freie Universität, Berlin) zu Beginn des zweiten Konferenztages die etwas umfassendere Thematik Arbeiterbewegungen in der europäischen Erinnerung des 20. Jahrhunderts.

Bruno Groppo (Centre National de la Recherche Scientifique, Paris) veranschaulichte in seinem Beitrag The Changing Memories of World War II and Resistance in Italy and France: A Comparative View die unterschiedlichen historischen und aktuellen Bedeutungen der Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg sowie an den antifaschistischen Widerstandskampf einerseits in Frankreich und andererseits in Italien. Er konstatierte dabei u.a., dass es in Italien in der offiziellen Erinnerungskultur lange Zeit ein pauschales Gegenüberstehen von angeblich nur einigen wenigen Faschisten und den späteren deutschen Besatzungstruppen auf der seinen Seite sowie dem weitaus überwiegenden Rest der Bevölkerung auf der anderen Seite gegeben habe. Diese undifferenzierte Erinnerung sei erst sehr spät hinterfragt worden, wobei dann auch die Problematik der italienischen Bürgerkrieges berücksichtigt worden sei.

Bernd Faulenbach (Ruhr Universität, Bochum) referierte über Die deutsche Sozialdemokratie in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der 1970er und 1980er Jahre. Faulenbach präsentierte interessante Details über die offizielle Geschichtspolitik der SPD sowie deren Hintergründe und Zielsetzungen. Allerdings ist in der anschließenden Diskussion zu Recht seine sehr unkritische Haltung gegenüber der Politik und der Geschichte der SPD bemängelt worden.

Helmut Konrad (Karl-Franzens-Universität, Graz) stellte die Geschichtspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in den 1970er und 1980er Jahren vor. Österreich kommt seinen Ausführungen nach in der Geschichte der Arbeiterbewegung eine Bedeutung zu, die größer als die vergleichbarer Länder ist. Das habe auch damit zu tun, dass in Österreich die Theorieentwicklung der Arbeiterbewegung über längere Zeit entscheidend vorangetrieben worden sei, wie z.B. durch den „Austromarxismus“. Außerdem sei hier die Alltagskultur etwa durch das „Rote Wien“ modellhaft etabliert worden. Nicht zuletzt beherberge es auch zentrale Gedächtnisorte – wie beispielsweise im Zusammenhang mit den Geschehnissen im Februar 1934. Trotz aller Beengtheit der akademischen Welt in Österreich habe die Arbeitergeschichte hier stärker als in anderen Ländern u.a. auch deshalb in den 1950er und 1960er Jahren Fuß fassen können, weil sie auf universitärer Ebene in der Ära Kreisky erheblich gefördert worden sei. Fast alle Lehrstuhlinhaber des Fachs Zeitgeschichte hätten in dieser Zeit nicht nur eine inhaltliche, sondern zudem auch eine institutionelle Nähe zu den Organisationen der Arbeiterbewegung gehabt. Allerdings sei dann von dieser Stellung aus der spätere wissenschaftliche Paradigmenwechsel von der traditionellen Ideen- und Organisationsgeschichte hin zu einer Sozial- und Kulturgeschichte nicht ausreichend berücksichtigt worden sei. Dadurch sei die Attraktivität dieses Fachs für einige Zeit in einem erheblichen Maße zurückgegangen.

Mario Kessler (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam) behandelte das Thema Die Historiographie der Arbeiterbewegung – von der Erinnerungskultur zur Erinnerung an eine Zukunft. In seinem spannenden Vortrag forderte er u.a. ein sehr viel offensiveres Agieren hinsichtlich der Erinnerungskultur der Arbeiterbewegung, auch im Zusammenhang mit der Überwindung der gegenwärtigen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung.

Nick Dyrenfurth (University of Sydney) thematisierte in seinem Beitrag ‘Socialism is being mates’: ‘Mateship’ and the Cultural Politics of the fin de siècle Australian Labour Movement einen sehr spezifischen Aspekt innerhalb der australischen Arbeiterbewegung. Dieser außerhalb Australiens kaum bekannte Aspekt des vor allem auch durch die dortigen besonderen Lebensumstände bedingten „mateship“ verbindet Gleichberechtigung, Loyalität und Freundschaft miteinander.

Andreas Eckert (Humboldt Universität, Berlin) zeigte in seinem sehr beeindruckenden Vortrag Historische Bezugspunkte afrikanischer Arbeiterbewegungen einerseits die Konzeptionen des europäischen, und dabei besonders des französischen Kolonialismus sowie deren durch die direkten und indirekten Einflussnahmen seitens der afrikanischen Arbeiterbewegung bedingten erheblichen Veränderungen nach 1945 auf. Eckert wies in diesem Zusammenhang nicht nur auf große und lange Streiks gegen Ende der 40er Jahre hin, sondern zeigte auch die Bedeutung z.B. der „Marktfrauen“ in diesen Kämpfen auf. Eckert veranschaulichte zudem, wie sich die Rolle, Bedeutung und Funktion der afrikanischen Arbeiterbewegungen im Kampf für die nationale Unabhängigkeit sowie nach der Durchsetzung der Unabhängigkeit ganz wesentlich verändert haben. Zu Recht hinterfragte er, ob die Kategorien der immer noch sehr eurozentristischen und traditionellen Sichtweise der Arbeiterbewegung in Bezug auf die Bedingungen etwa in Afrika adäquat sind. Er zeichnete gleichfalls nach, wie sich die Bedingungen und die Bedeutungen der Arbeiterbewegungen in afrikanischen Staaten nach dem Erlangen der nationalen Unabhängigkeiten grundlegend gewandelt haben: In vielen afrikanischen Staaten wurden Aktivisten der Arbeiterbewegung zu Angehörigen der postkolonialen Staatsbürokratie.

Dass die Bedeutung der Arbeiterbewegungen und der Erinnerungen an die Traditionen an die Arbeiterbewegung in vielen Staaten Südamerikas nach dem Übergang von militär-faschistischen Regimes zu demokratischen Regierungen wesentlich geringer geworden ist, wies Gerardo Leibner (Institute for Latin American History and Culture, Tel Aviv University) in seinem Beitrag The Memory of Latin American Labour Movements nach. Die Erinnerungen an die Arbeiterbewegungen werden von anderen Erinnerungen überlagert, z.B. von den Erinnerungen der Angehörigen an die Opfer der faschistischen Regimes. Leibner hat hier betont, dass die Angehörigen ihre ermordeten Verwandten nicht nur als bloße Opfer, sondern auch als aktive Kämpfer gegen die Regimes ansehen.

Wie kompliziert und schwierig die Bedingungen für die Arbeiterbewegung in Südkorea gewesen sind und auch gegenwärtig heute noch immer sind, zeigte Hyun Back Chung (Sungkyunkwan University, Seoul) in ihrem Vortrag Memories of the South-Korean Labour Movement. Sie schilderte das Leben, die erinnerungspolitische und die politische Bedeutung von Chun tae-il, der sich zweiundzwanzig jährig im Jahr 1970 aus Protest gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen der ArbeiterInnen in kleinen Fabriken selber verbrannt hat.

Berthold Molden (Wien) thematisierte mit seinen Konferenzbeitrag Historische Bezugspunkte der Antikolonialbewegung einige der zentralen antikolonialen Geschichtspolitiken von der Konferenz der antiimperialistischen Liga im Jahr 1927 in Brüssel bis in die Gegenwart.

Dass es zwischen den feministischen Bewegungen in Skandinavien und der Arbeiterbewegung keine bedeutenden politischen Kontakte gegeben hat, veranschaulichte Ulla Manns (Department of Gender Studies, Södertörn University, Stockholm) in ihrem Vortrag Historico-political Strategies of Scandinavian Feminist Movements.

Über den Wandel der polnischen Gewerkschaft Solidarität von einer bedeutenden Reformbewegung hin zu einer Organisation, die die politisch rechts orientierte Partei Recht und Gerechtigkeit unterstützt, referierte Tomasz Kozlowski (The Institut of National Remembrance, Warszawa) in The Memory of the Polish Independent Self-Governing Trade Union “Solidarnosc”. Trotz dieses gravierenden politischen Wandels wird die Geschichte der Solidarität immer noch von einem Großteil der polnischen Bevölkerung, auch von der Jugend, positiv beurteilt.

Jens Kroh (Essen) hatte zum Abschluss der Konferenz die schwierige Aufgabe, eine Synthese der verschiedenen Beiträge und der zahlreichen Diskussionsbeiträge zu erstellen.

Ergebnisse der Konferenz
Als wesentliches Ergebnis der Konferenz muss zum einen festgehalten werden, dass aus mehreren Gründen die Erinnerungen an die klassische, die traditionelle Arbeiterbewegung und ihre unterschiedlichen Strömungen sowie deren ProtagonistInnen bis auf sehr wenige Ausnahmen gegenwärtig weder im jeweiligen nationalen, regionalen und globalen Zusammenhang eine nennenswerte Bedeutung mehr haben. Die Erinnerungen an die traditionelle Arbeiterbewegung sind entweder an den Rand der Erinnerungskultur gedrängt worden, oder sie werden oftmals von anderen Erinnerungen überlagert.

Die Konferenz hat allerdings gleichzeitig durchaus auch einige Möglichkeiten und Wege aufgezeigt, wie dieses wenig erfreuliche Ergebnis zumindest tendenziell verändert werden kann. Zu diesen Möglichkeiten und Wegen gehören u.a. die Nutzung des Internets für die Verknüpfung von Archiven, ProtagonistInnen und WissenschaftlerInnen, die digitale Zur-Verfügung-Stellung von Materialien, dazu gehört aber auch die Nutzung von traditionellen Medien wie Rundfunk und Fernsehen für die Verbreitung der Erinnerungen an die Arbeiterbewegung („HistorikerInnen der Arbeiterbewegung müssen medial Besseres zustande bringen als Guido Knopp!“).

Zum anderen hat die Konferenz (wie auch schon die Konferenz im letzten Jahr) die mit den Begriffen „Arbeit“, „Lohnarbeit“ und „Arbeiterbewegung“ verbundenen Problematiken offenkundig werden lassen. Es scheint offensichtlich unbedingt erforderlich zu sein, sich mit diesen Begriffen noch einmal sehr viel differenzierter und intensiver als bislang zu beschäftigen. Die in der MEGA² veröffentlichten Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels geben dafür sicherlich einige Ausgangspunkte sowie zahlreiche Anregungen.

Schließlich hat die Konferenz auch eine nach wie vor bestehende große Lücke aufgezeigt, nämlich dass es bis heute noch kein wissenschaftliches Werk gibt, in dem die globale Geschichte der Arbeiterbewegung mit all ihren Wechselwirkungen und Beeinflussungen untersucht und dargestellt wird, so wie es Wolfgang Abendroth bezogen auf Europa mit seiner „Sozialgeschichte der europäischen Arbeiterbewegung“ versucht hat.

* Andreas Diers ist Mitglied der Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen.

Überblick

Veranstaltet von:
International Conference of Labour and Social History (ITH) und Kammer für Arbeiter und Angestellte Oberösterreichs

Vorbereitungsgruppe:
Koordinator: Jürgen Mittag (Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Univ. Bochum)
Bruno Groppo (Centre d’Histoire Sociale, Université de Paris I)
Eva Himmelstoss (ITH)
Jürgen Hofmann (Historische Kommission der LINKEN, Berlin)
Silke Neunsinger (Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek, Stockholm)
Berthold Unfried (ITH & Institut für Wirschatfs- und Sozialgeschichte, Univ. Wien)
Marcel van der Linden (IISG Amsterdam)

Organisatorische Hinweise:
Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch (Simultanübersetzung). Ein Referat sollte 20 Minuten nicht überschreiten. Für ReferentInnen ist die Unterbringung und Verpflegung kostenlos, die Reisekosten werden nach vorheriger Absprache mit dem ITH-Büro in Wien ganz oder teilweise erstattet. Ein Vortragshonorar wird nicht gezahlt. Eine Publikation in Form eines Sammelbands ist geplant.

Veranstaltungsort:
Bildungshaus Jägermayrhof der Arbeiterkammer Oberösterreich
Römerstraße 98, 4020 Linz, Österreich

Kontakt:
Eva Himmelstoss
International Conference of Labour and Social History (ITH)
Altes Rathaus, Wipplinger Str. 8, 1010 Wien, Österreich
Fax +43 (0)1 2289469-391, e-Mail: ith[a]doew.at

Hintergrund und Zielsetzungen

Den Ausgangspunkt der Tagung bildet die Frage nach der Präsenz von Arbeiterbewegungen im Repertoire der Vergegenwärtigung von Vergangenheit („kollektive Erinnerung“). In der Flut an Debatten und Publikationen, welche der Aufstieg des Konzepts „kollektiver Erinnerung“ in den letzten beiden Jahrzehnten ausgelöst hat, blieb die Rolle der Arbeiterbewegungen weitgehend unkonturiert; zumeist wurde sie gar nicht thematisiert.

In der Konferenz soll untersucht werden, welche Erinnerungsmuster über Arbeiterbewegungen in die „kollektive Erinnerung“ wie und von wem eingespeist wurden und welche Veränderungen diese Erinnerungsprozesse in den vergangenen Jahren erfuhren. Stehen in Europa etwa die sozialen Emanzipations-bestrebungen im Mittelpunkt der Erinnerung, ist es der Beitrag der Arbeiterbewegungen bei der Formierung von Sozialstaaten und bei der Schaffung relativ homogener Gesellschaften in Europa – oder spielen ganz andere kognitive und affektive Denktraditionen eine Rolle?

Auf der einen Seite soll der Blick auf die „Erinnerung“ an Arbeiterbewegungen und soziale Bewegungen in einzelnen Staaten und Regionen und ihren Niederschlag im Inventar „globaler“ Erinnerung gerichtet werden. Auf der anderen Seite wird das Augenmerk auf erinnerungspolitische Strategien gelenkt, die diese Bewegungen selbst entwickelt haben.

Waren Arbeiterbewegungen – im Sinne von Bewegungen, die in größere Zusammenhänge historischer Entwicklung eingebunden waren – prägend für erinnerungspolitische Strategien politischer Bewegungen überhaupt? Wie positionieren sich Arbeiterbewegungen und soziale Bewegungen weltweit in dem Versuch, der Gegenwart durch den Blick auf die Vergangenheit eine Perspektive auf die Zukunft zu verschaffen? Ist diesem erinnerungspolitischen Zusammenhang durch das neue Erinnerungsregime, in dem die Perspektive auf die Zukunft hinter dem Blick auf die Vergangenheit verschwindet, die Grundlage abhanden gekommen?

Programm

Veranstaltungsort: Bildungshaus Jägermayrhof der AK Oberösterreich
Römerstraße 98, 4020 Linz, Österreich

Veranstaltet von der International Conference of Labour and Social History und der Kammer für Arbeiter und Angestellte Oberösterreich, mit freundlicher Unterstützung von Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, oberösterreichischer Landesregierung, Stadt Linz und Friedrich Ebert-Stiftung Bonn

Vorbereitungsgruppe
Jürgen Mittag (Koordinator, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Univ. Bochum), Bruno Groppo (Centre d’Histoire Sociale, Université de Paris I), Eva Himmelstoss (ITH), Jürgen Hofmann (Historische Kommission der LINKEN, Berlin), Silke Neunsinger (Arbetarrörelsens arkiv och bibliotek, Stockholm), Berthold Unfried (ITH & Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Univ. Wien), Marcel van der Linden (Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam)

 

PROGRAMM

Simultanübersetzung: Deutsch — Englisch

Donnerstag, 9. September 2010

9.00 – 22.00
Anmeldung der TeilnehmerInnen im Jägermayrhof

13.00 – 15.00
Sitzung des Vorstands und des Internationalen Beirats der ITH

15.00: Pause

15.30 – 17.30
Generalversammlung der Mitgliedsinstitute der ITH

17.30: Aperitif

18.00
Eröffnung der Konferenz durch den Präsidenten der ITH, Berthold Unfried, Walter Schuster vom Archiv der Stadt Linz und unseren Gastgeber, Erwin Kaiser, vom Bildungshaus Jägermayrhof

18:30
Eröffnungsvortrag von Enzo Traverso (Paris): European Memories. Entangled Perspectives

19.00
Empfang des Bürgermeisters der Stadt Linz im Jägermayrhof

20.30
Verleihung des René-Kuczynski-Preises 2010 für herausragende Publikationen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an Silke Fengler für ihr Buch: Entwickelt und fixiert. Zur Unternehmens- und Technikgeschichte der deutschen Fotoindustrie, dargestellt am Beispiel der Agfa AG Leverkusen und des VEB Filmfabrik Wolfen (1945-1995), Essen 2009

Freitag, 10. September 2010

9.00
Einführung in den neuen Tagungszyklus der ITH und in das aktuelle Programm durch Berthold Unfried (Wien) und Jürgen Mittag (Bochum)

9.30
PANEL I (Spuren der Arbeiterbewegungen in der europäischen Erinnerung)
Vorsitz: Jürgen Mittag (Bochum)

Jürgen Kocka (Berlin): Arbeiterbewegungen in der europäischen Erinnerung des 20. Jahrhunderts

11.00 – 11.30 Kaffeepause

Bruno Groppo (Paris) / Filippo Focardi (Padua): The Changing Memories of World War II and Resistance in Italy and France: A Comparative View

12.30
Empfang des Landeshauptmannes von Oberösterreich im Jägermayrhof

14.00
PANEL II (Erinnerungsstrategien von Arbeiterbewegungen)
Vorsitz: Berthold Unfried (Wien)

Bernd Faulenbach (Bochum): Die deutsche Sozialdemokratie in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der 1970er und 1980er Jahre
Helmut Konrad (Graz): Geschichtspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in den 1970er und 1980er Jahren

16.00 – 16.30 Kaffeepause

Mario Keßler (Potsdam): Die Historiographie der Arbeiterbewegung – von der Erinnerungskultur zur Erinnerung an eine Zukunft
Nick Dyrenfurth (Sydney): ‘Socialism is being mates’: ‘Mateship’ and the Cultural Politics of the fin de siècle Australian Labour Movement

18.00
Zwischenbilanz
Jens Kroh (Essen): Welche Interpretationsstränge wurden bisher verfolgt?

18.30
Abendessen im Jägermayrhof

20.00
Öffentliche Podiumsdiskussion
Macht.Geschichte.Politik
Die Rolle der HistorikerInnen in der Erinnerungspolitik
Ort: Wissensturm der VHS Linz, Kärntner Str. 26
VeranstalterInnen: ITH, AK Oberösterreich, Volkshochschule Linz

Podium: Jürgen Kocka (Berlin), Oliver Rathkolb (Wien), Brigitte Kepplinger (Linz)

Bitte beachten Sie: Die Podiumsdiskussion findet in deutscher Sprache ohne Simultanübersetzung statt!

Samstag, 11. September 2010

9.00
PANEL III (Arbeiter- und soziale Bewegungen in Afrika, Lateinamerika und Asien)
Vorsitz: Vorsitz: David Mayer (Wien)

Andreas Eckert (Berlin): Historische Bezugspunkte afrikanischer Arbeiterbewegungen
Gerardo Leibner (Tel Aviv): The Memory of Latin American Labour Movements

10.45 – 11.15 Kaffeepause

Hyun Back Chung (Seoul): The South Korean Labour Movement and the Legacy of Chun Tae-Il Myth: Resistance Memory or Public Memory?

12.30
Mittagessen im Jägermayrhof

14.00
PANEL V (Erinnerungsstrategien sozialer Bewegungen)
Vorsitz: Silke Neunsinger (Stockholm)

Berthold Molden (Wien): The Politics of History of Anticolonial Activism. A Historicizing Localization
Ullla Manns (Stockholm): Historico-political Strategies of Scandinavian Feminist Movements

16.00 – 16.30 Kaffeepause

Tomasz Kozłowski (Warszawa): The Memory of the Polish Independent Self-Governing Trade Union “Solidarnosc”

17.15
Schlussdiskussion
Jens Kroh (Essen): Versuch einer Synthese

19.00
Abendessen im Jägermayrhof

Sonntag, 12. September 2010

Abreise der TeilnehmerInnen nach dem Frühstück

Abstracts der Beiträge

Hyun-Back Chung (Sungkyunkwan University, Seoul, South Korea)
Chun tae-il Myth in the Memory of South Korean Society

Chun tae-il was a 22 year old young worker, who burned himself to death in order to protest the inhuman working conditions of workers in small confection industries in Peace market, Seoul. His death in the year 1970 awoke the intellectuals and students who until that time concentrated their struggles mainly on the democratization from military dictatorship. It was the starting point of the South Korean labour movement, which had been strictly forbidden under the brutal anti-communist law since the division of the country in 1945.
In the year of 2005 the Chun tae il-Street and his (sculpture) bust were built at a newly constructing park called ‘chongyechun’, in downtown of Seoul. This constructing process showed complicated interests and memory politics in South Korean society. This research will try to analyse the tensions that exist surrounding the institutionalization of the memory of Chun Tae Il and making him a symbol of worker’s protest movement. This work will indicate not only the memory struggle concerning the history of labour movement but also the collective identity of South Korean society in relation to labor questions representatively.

Nick Dyrenfurth (University of Sydney, Australia)
‘Socialism is being mates’: ‘Mateship’ and the Cultural Politics of the fin de siècle Australian Labour Movement

The ideal of ‘mateship’ is a frequently claimed for Australian value. Mateship has come to describe the allegedly deep bonds of equality, loyalty and solidarity – what much of the world generally perceives of as merely ‘friendship’ – between groups of two or more Australians, usually men. In Australia the term ‘mate’ is also a form of address; a key element of what historians characterise as that nation’s distinctive ‘egalitarianism of manners’. Deeds of mateship have been cited during times of crisis such as war, but are also claimed to be practiced in the everyday workplace and community life of Australians. Indeed, historically, mateship has been ascribed a working class meaning. It was lauded, for instance, by the radical labour movement propagandist William Lane as akin to ‘socialism’ and is generally associated with the cultural memory of the Australian Labor Party. In more recent times it has come to be associated with the rhetoric of former conservative Prime Minister John Howard. While mateship is not a uniquely Australian virtue, aspects of its antipodean deployment are undoubtedly distinctive, in particular its heavy politicisation. This paper provides a case study examining the first politically inspired ‘hijack’ of the ideal by the Australian labour movement during the period between the 1890s and the First World War. I explore why movement propagandists such as Lane tied mateship to ideals of unionism and, to an extent, that of socialism. Later I show how, during the tumult of the Great War, the labour movement arguably lost control of the ideal, as conservatives appropriated mateship as a means of campaigning for military conscription.

Bernd Faulenbach (Ruhr-Universität Bochum)
Die deutsche Sozialdemokratie in den geschichtspolitischen Auseinandersetzungen der 1970er und 1980er Jahre

Die SPD hat zu keiner Zeit nach 1945 ein geschlossenes Geschichtsbild auszubilden versucht. In den 60er Jahren und in den 70er Jahren gab es in der deutschen Sozialdemokratie und ihren Umfeldern so etwas wie einen „ahistorischen Progressismus“, der mit rationalbegründeten Machbarkeitsvorstellungen verbunden war. In den 70er und 80er Jahren verstärkte sich in der deutschen Sozialdemokratie das Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung. Bedeutsam war der Aufbau des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Symptomatisch für das neue Interesse an Geschichte war die Reaktivierung der Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten (1979) und die Gründung der Historischen Kommission beim Parteivorstand der SPD (1981), bei der das Ziel der Identitätsvergewisserung in schwieriger Zeit ebenso eine Rolle spielte wie die wachsende Bedeutung von Kultur und der daraus abgeleiteten Frage der „kulturellen Hegemonie“.
Der Sozialdemokratie kam in den großen geschichtspolitischen Auseinandersetzungen in der Bundesrepublik der 80er Jahre (Historikerstreit, Auseinandersetzungen um das Haus der Geschichte und das Deutsche Historische Museum sowie über Gedenkstätten) zu Gute, dass nicht wenige Zeit- und Sozialhistoriker mit der Sozialdemokratie und ihrer Reformpolitik sympathisierten. Sie akzentuierten mit Jürgen Habermas die Gegenwartsbedeutung des NS und seiner Verbrechen, und manche übernahmen auch dessen postnationale Positionen. Von Bedeutung war auch die Abwendung von der Totalitarismustheorie, deren wissenschaftliche Erklärungskraft sichtlich begrenzt war und die auch politisch nicht gewollt war, da man auf die Wandelbarkeit der kommunistischen Systeme hoffte.
Die sozialdemokratische Partei griff während der 80er Jahre Impulse der Geschichtswerkstättenbewegung, der „Grabe-wo-Du-stehst-Bewegung“ u.a. auf, die Geschichte „von unten“ zu erforschen suchte. Dabei entstanden nicht nur manche Ortsvereinsgeschichten, sondern auch Arbeiten, die die NS-Zeit, insbesondere Widerstand und Verfolgung, „vor Ort“ thematisierten und teilweise auf die Einrichtung von Gedenkorten zielten. Zwar standen die „Barfußhistoriker“ den Grünen nahe, doch auch in der deutschen Sozialdemokratie entwickelte sich in den 80er Jahren eine Art Geschichtsbewegung, die zur Stärkung des geschichtlichen Bewusstseins beitrug.
Beachtliche Resonanz in der Öffentlichkeit erzielte die SPD mit den – Geschichte und Politik verknüpfenden – Foren der Historischen Kommission, von denen die Veranstaltung mit DDR-Historikern (1988) „Erben deutscher Geschichte“ die spektakulärste war. Aufs Ganze gesehen ist es Helmut Kohl nur bedingt nach 1982 gelungen, eine „geistig-moralische Wende“ auf geschichtspolitischem Feld durchzusetzen. Es kam nicht zur Restauration eines traditionellen Geschichtsbewusstseins. Dazu trugen nicht zuletzt die Sozialdemokratie und Historiker und die neue Geschichtsbewegung bei.

Bruno Groppo (Centre d’Histoire Sociale du XXème Siècle, Paris)
Filippo Focardi (Department of Historical and Political Studies, University of Padua)
The Changing Memories of World War II and Resistance in Italy and France: A Comparative View

One of the main topics of this paper is the weakening of the “glorious memory” of the Resistance (and antifascism) in Italy and France, and the appearance of memories that had been marginalized for decades because they did not fit well in the dominant narratives focused on the Resistance (e.g., memories of the persecution and deportation of the Jews, of various massacres of civilians by German troops, divided memories in the border regions between Italy and the former Yugoslavia, memories of colonial massacres). This shift in the focus of memory has been strongly influenced, both in Italy an in France, by the collapse of communism after 1989.
The paper will analyze in a comparative way the Italian and the French case, with some references to Germany as far as the question of the antifascist memory is concerned. We shall show how the memory of the Resistance was constructed and transmitted, in particular by labour organizations, and how it functioned as a fundamental instrument of legitimation and identity, until it entered into a long-lasting crisis. We shall also analyze the articulation between the memory of the Resistance and the memories of communism, before and after the fall of the Berlin wall.

Mario Keßler (Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam)
Die Historiographie der Arbeiterbewegung – von der Erinnerungskultur zur Erinnerung an eine Zukunft

Die Arbeiterbewegung mitsamt ihrem politischen und kulturellen Selbstverständnis ist heute nur noch ein Teil der weltweiten Sozialbewegung, die um die grundlegende Verbesserung der Lebensbedingungen abhängig Beschäftigter kämpft. Ihre historische Leistung zumindest in den Industriestaaten besteht darin, dass ohne sie die bürgerliche Demokratie weder durchgesetzt noch durch eine soziale Demokratie untermauert worden wäre. Die Arbeiterbewegung verhinderte auch eine lang anhaltende Allianz von bestimmten Fraktionen der Bourgeoisie mit dem Faschismus. Als gesellschaftlich entscheidende Klasse, die den Kapitalismus historisch beerben würde, ist jedoch ihr einstiger Träger, das Industrieproletariat, aus der Geschichte weitgehend verschwunden, obgleich die Proletarisierung von Teilen der unteren Mittelklassen hier neue Konstellationen schaffen können.
Die Historiographie der Arbeiterbewegung muss deshalb, zumal nach den Erfahrungen von 1989, auf die Zuschreibung einer historischen Mission an die Adresse der Arbeiterbewegung verzichten. Dennoch ist die Geschichte der Arbeiterbewegung weit mehr als die Rekonstruktion einer ruhmvollen oder widersprüchlichen Vergangenheit. Solange die sozialen Fragen, zu deren Lösung die Arbeiterbewegung angetreten war, ganz oder teilweise noch ungelöst sind, solange wird es entsprechende Sozialbewegungen geben, die ohne die Erfahrungen der Arbeiterbewegung nicht zu denken sind. In diesem Sinn ist die Historiographie der Arbeiterbewegung Teil des sozialen Gedächtnisses all jener, die nach Antworten auf drängende soziale Probleme in Sinne einer Gesellschaftsveränderung suchen. Die Historiographie der Arbeiterbewegung bleibt auch zukünftig ein Stachel im Fleisch derer, die den Status quo als beste aller möglichen Welten ansehen.

Helmut Konrad (Universität Graz)
Geschichtspolitik der österreichischen Sozialdemokratie in den 1970er und 1980er Jahren

In der Geschichte der Arbeiterbewegung kommt Österreich ein Platz zu, der größer ist als jener von vergleichbaren Ländern. Das hat damit zu tun, dass hier die Theorieentwicklung entscheidend vorangetrieben wurde (Stichwort Austromarxismus), dass hier modellhaft Alltagskultur etabliert wurde (Stichwort Rotes Wien) und dass es zentrale Gedächtnisorte (Stichwort Februar 1934) beherbergt.
Daher hat, trotz aller Beengtheit der akademischen Welt in diesem Land, Arbeitergeschichte in den fünfziger (Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung) und sechziger (ITH, Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, DÖW) signifikanter Fuß fassen können als in anderen Ländern. Das Fach Zeitgeschichte galt als „links“, für Jahrzehnte hatten (fast) alle Lehrstuhlinhaber eine nicht nur inhaltliche, sondern meist auch institutionelle Nähe zu den Organisationen der Arbeiterbewegung. Dies hatte eine Ursache auch in der Förderung des Faches in der Kreisky-Ära durch Hertha Firnberg.
Allerdings wurde von dieser Position aus der Paradigmenwechsel von der Ideen- und Organisationsgeschichte hin zur Sozial- und Kulturgeschichte etwas verschlafen, was dem Fach für einige Zeit dramatisch die Attraktivität entzog. Linz etwa hatte das Monopol als Begegnungsort verloren, und im Jahr 2009 als Kulturhauptstadt war das „Hotel Schiff“ ein „Ort der Stille“, ohne jeden Bezug auf den Februar 1934. Nur in Wien hat sich die Arbeiterbewegung in einem Ausmaß materiell in die Stadt eingeschrieben, dass sie integraler Teil der Stadtrepräsentation sein muss.

Tomasz Kozłowski (Warsaw University)
The Memory of the Polish Independent Self-Governing Trade Union ‘Solidarność’

The paper focuses on how Polish society recalls the Independent Self-Governing Trade Union Solidarność and its activity in 1980-1989. Solidarność was founded in 1980. Before that, in Communist Poland, there were some structures called trade unions but they differed significantly from their popularly accepted role. In fact, they were controlled by the authorities, being apathetic about workers’ interests. Seeing that, in 1980, the shipyard workers demanded a right to organize independent labor unions. That was the beginning of the biggest phenomenon of the 20th century Polish history. Over 9 million people signed it up (it is estimated that every second adult Polish citizen was its member). I am going to present how Poles recall Solidarność movement and how they evaluate its role. For many, that trade union became an organization that, with its actions of defending workers’ rights, went beyond peoples’ expectations. Solidarność was fighting for human rights and country’s independence. In my analysis I am going to use the latest opinion polls. I will also focus on the question of creating the historical policy on Solidarność.

Berthold Molden (Wien)
Historische Bezugspunkte der Antikolonialbewegung

In seinem Buch über die Afro-Asiatische Konferenz, die im April 1955 die indonesische Stadt Bandung zum ersten Kulminationspunkt einer transkontinentalen post- und antikolonialen Ermächtigungspolitik machte, beobachtete der afroamerikanische Schriftsteller Richard Wright an westlichen Medienbeobachtern den völligen Mangel einer „philosophy of history with which to understand Bandung“. Dipesh Chakrabarty ist darin zuzustimmen, dass diese Diagnose auf ein grundsätzliches westliches Missverständnis hinweist: dass der Antikolonialismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster Linie eine strategische Form inversen Rassismus sei, mit der dem Westen der Kampf angesagt werde. Tatsächlich findet sich die Angst vor der „Rache der Ausgebeuteten“ häufig als hintergründiges Transkript antikommunistischer Politik im Kalten Krieg – etwa in der Identifikation indigener Gemeinschaften Lateinamerikas als proto-kommunistische Kulturen, die nur darauf warteten, unter dem Einfluss eines internationalen Marxismus die postkolonialen Eliten in den jeweiligen Hauptstädten zu beseitigen. Und auch revolutionärer Internationalismus war ein wesentlicher Diskurs postkolonialen Aktivismus, insbesondere ab den 1960er Jahren, wie sich an Che Guevaras Botschaft an die Trikontinentale Konferenz (Havanna, 1966) ablesen lässt. Dennoch aber war dies nur ein Strang eines komplexen und heterogenen Diskurses, an dem im Laufe des 20. Jahrhunderts zahlreiche und unterschiedliche AkteurInnen Teil hatten. Aufgrund verschiedener Erfahrungshintergründe dieser AkteurInnen, die aus dem postkolonialen Süden ebenso wie aus Europa und den USA stammten, waren auch ihre geschichtspolitischen Argumente höchst unterschiedlich. Dieser Vortrag verortet einige der zentralen antikolonialen Geschichtspolitiken in einer Zeitreihe, die von der Konferenz der anti-imperialistischen Liga 1927 in Brüssel bis in die Gegenwart reicht.

Ratna Saptari (Leiden University / International Institute of Social History, Amsterdam)
Labour, Collective Memory and Nationhood: Spatial Dimensions of the Indonesian Decolonization Process

My paper will reflect on the concept of collective memory as it is used to examine the understanding of the past by looking at stories of organized and unorganized workers in the Indonesian decolonization process. If we follow the nationalist rhetoric in the decolonization process, frequent references are made to workers and the suffering of the people. At the same time labour movements in the decolonization process are unequivocal in their anti-colonial rhetoric, whether they are affiliated to nationalist political parties or not. It is an undeniable fact that despite cultural, ethnic and religious differences, there is a sense of shared national belonging. It is in this sense that studying the collective memory of labour movements, and union leaders on the decolonization process is an exciting and challenging endeavor. The conventional approach would be to look at the process of decolonization and how people in different geographical locations perceive and recollect this process. However critical views on this approach have argued that the construction of collective memory is itself problematic. This paper is based on a collective project (‘Indonesia Across Orders, under the umbrella of the Netherlands Institute for War Documentation’) which examines the role of unions in the ‘vital’ sectors such as the railway, harbour and mining sectors, but also unorganized workers in the ‘informal’ sectors (pedicab drivers and domestic workers) in the decolonization process. Although the project itself did not focus on the formation of collective memory, in this paper, I would like to examine how different historical actors simultaneously represent, receive and contest memory. It is also a reflection on the relationship of individual and collective memory; on the role of geographical difference in nation formation and how this influences perceptions of the past. It also attempts to look at how space (public vs. private) affects the reconfigurations of individual memories and what this can tell us about collective memory.

Enzo Traverso (University of Picardie Jules Verne, Amiens)
European Memories. Entangled Perspectives

By contrast with the two preceding centuries, which were shaped by the impact of the French and Russian Revolutions, the twentieth-first century has begun under the sign of the eclipse of utopias. The disappearance of a visible “horizon of expectation” has generated a charged memory of the twentieth century as a time of violence, totalitarianisms and genocides, encapsulated by the image of their victims. Analyzing the commemorations of May 8, 1945 – the anniversary of the end of the Second World War and of the Sétif massacre – we could distinguish three main spaces that define Europe’s memories: a Western space shaped by the remembrance of the Holocaust; an Eastern space dominated by the legacy of Communism; and a postcolonial space exhuming the continent’s imperial past. In spite of the conflicts that it entails, the conjunction of these different perspectives can prove fruitful both hermeneutically (as a tool for rethinking European history) and politically (as a means of reformulating an idea of citizenship that transcends national divisions).

Andreas Eckert (Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität Berlin)
Historische Bezugspunkte der afrikanischen Arbeiterbewegungen

Die Arbeiterbewegungen haben in Afrika die Geschichte der Dekolonisation stark geprägt. Eine Reihe nationalistischer afrikanischer Politiker wie Sekou Touré entstammte der Gewerkschaftsbewegung, sah jedoch bald in der „Labour Question“ kein wichtiges Vehikel für den nationalistischen Kampf mehr. In den jungen Staaten Afrikas sind Arbeiterorganisationen bald an den Rand gedrängt worden. Im Namen der nationalen Einheit und der Nationsbildung wurden etwa Gewerkschaften verboten oder in die herrschenden Parteien „integriert“. Als in diesem Jahr viele afrikanische Staaten den 50. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit begingen, spielten die Arbeiterbewegungen in den entsprechenden Inszenierungen der Erinnerung kaum eine Rolle. Am stärksten ist die Arbeiterbewegung noch in der „kollektiven Erinnerung“ Südafrikas präsent. Der einstige Apartheidstaat verfügte im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern südlich der Sahara über eine signifikante Industrie und eine vergleichsweise große Arbeiterschaft. Der Beitrag wird sich daher auf Südafrika konzentrieren, gleichwohl auch andere Beispiele heranziehen. Gefragt werden soll nach dem Platz von Arbeiterbewegungen in der Erinnerungspolitik, aber auch nach den erinnerungspolitischen Strategien einzelner Gruppen und Individuen. Schließlich gilt es, der Rolle afrikanischer Arbeiterbewegungen für globale Erinnerungsprozesse nachzuspüren.

Jürgen Kocka (Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin)
Arbeiterbewegungen in der europäischen Erinnerung des 20. Jahrhunderts

In dem Vortrag soll es erstens um die Frage gehen, mit welchen Absichten, in welcher Weise und mit welchem Erfolg die Arbeiterbewegungen seit dem 19. Jahrhundert versucht haben, ihr Bild in der kollektiven Erinnerung – intern und im Hinblick auf die Öffentlichkeiten – zu prägen. Zweitens soll den wichtigsten Entwicklungslinien in den vorherrschenden Bildern von der Arbeiterbewegung unter unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen im Wandel des 20. Jahrhunderts nachgespürt werden. Der Vortrag schließt mit der Frage, ob es in Bezug auf die Arbeiterbewegung so etwas wie eine europäische Erinnerung gibt.

Gerardo Leibner (Institute for Latin American History and Culture, Tel Aviv University)
The Memory of Latin American Labour Movements

In this presentation I will explore two main problems:
1. The complex relationship between the memory of the labour movement and the memory of the revolutionary movement. In this analysis I will refer to Peru, Argentina, Uruguay and Chile.
2. The shifts and changes in the representations of the political, social and ideological history of the labour movement from the 1960s until the last decade, as they are reflected in the institutional memory and in the memoirs published by some of its leaders. I will mainly base my analysis on materials from a research on Uruguay.

Ulla Manns (Department of Gender Studies, Södertörn University, Stockholm)
Historico-political Strategies of Feminist Movements

First Wave Scandinavian Feminist got organized simultaneously, eager to on a collective basis radically change conditions for women and contemporary conceptions of gender. Regarded as a social movement, Scandinavian feminist organizations and individuals connected to the movement rapidly produced a great amount of documents that both functioned as political statements and as forceful tools fostering feminists and feminist identities. Journals, protocols, pamphlets, novels, theatre plays etc. were produced, all with the aim to document, foster and participate in an ongoing, often heated debate about gender, power and feminist identity. In this huge source material there are many texts telling the story of the so called woman question in the region, the history of prominent feminists or organizations. In all, Scandinavian feminism was quickly keen on controlling and therefore also producing a history of it-self, on a collective as well as on an individual basis.
This paper presents an analysis of the master narratives produced by Scandinavian feminists during and shortly after the decline of First Wave feminism. The paper discusses the impact of historical consciousness on social movements in general and for feminist identity in particular. The material shows a clear trend towards the writing of a homogeneous history of a movement where internal conflicts are tuned down. The profound importance of men in early Scandinavian feminism is also diminished, as is more radical feminist groups within the movement, groups advocating sexual reforms, left wing liberals, peace workers, not to mention socialists.

TeilnehmerInnen

Bitzegeio Ursula, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, Germany
Bollauf Traude, Vienna, Austria
Botz Gerhard, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien, Austria
Buckmiller Michael, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hannover, Germany
Chung Hyun Back, Department of History, Sung Kyun Kwan University, Rebulic of Korea
Diers Andreas, Förderkreis Archive u. Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin, Germany
Domaschke Cornelia, Rosa-Luxemburg Stiftung, Berlin, Germany
Dyrenfurth Nick, Faculty of Economics and Business, The University of Sydney, Australia
Eckert Andreas, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Univ. Berlin, Germany
Ehmer Josef, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien, Austria
Faulenbach Bernd, Ruhr-Universität Bochum, Germany
Fengler Silke, Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, Austria
Fischer Karin, Universität Linz, Austria
Fuhrmann Uwe, Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Berlin, Germany
Garscha Winfried, Dokumentationsarchiv des Österr. Widerstandes & ITH, Vienna, Austria
Grages Christian, Historische Kommission beim Parteivorstand der LINKEN, Hannover, Germany
Groppo Bruno, Centre d’Histoire Sociale du XXe Siècle, Université de Paris I, CNRS, France
Hapák Pavel, Vysoká škola Sládkovicovo, Slovak Republic
Harder Ernesto, Friedrich Ebert-Stiftung, Archiv der sozialen Demokratie, Bonn, Germany
Hemmer Hans-Otto, Johannes-Sassenbach-Gesellschaft, Berlin, Germany
Hentilä Marjaliisa, The Finnish Labour Archives, Helsinki, Finland
Hiesmair Manuela, Institut für Gesellschafts- und Sozialpolitik, Univ. Linz, Austria
Himmelstoss Eva, ITH, Wien, Austria
Hoffrogge Ralf, Förderkreis Archive u. Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin, Germany
Hofmann Jürgen, Historische Kommission beim Parteivorstand der LINKEN, Berlin, Germany
Hubmann Georg, Sozialdemokratische Partei Oberösterreich
Hüttner Bernd, Rosa-Luxemburg-Initiative Bremen, Germany
Ito Narihiko, Kakamura-City, Japan
Jemnitz János, Hungarian Academy of Sciences, Budapest
Jönson Ulf, Labour Movement Archives and Library, Stockholm, Sweden
Kaiser Erwin, AK-Bildungshaus Jägermayrhof, Linz, Austria
Kandilarov Evgeniy, Centre for Historical and Political Studies, Sofia, Bulgaria
Kapeller Jakob, Institut für Philosophie und Wissenschaftstheorie, Univ. Linz, Austria
Keßler Mario, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam, Germany
Kim Byung-Ho, Embassy of the Republic of Korea
Kocka Jürgen, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin, Germany
Konok Petér, Politikatörténeti Intézet (PTI), Budapest, Hungary
Konrad Helmut, Institut für Geschichte, Universität Graz, Austria
Kozlowski Tomasz, The Institute of National Remembrance, Warsaw, Poland
Kreisky Jan, Wien, Austria
Krenn Gottfried, Linz, Austria
Kroh Jens, Kulturwissenschaftliches Institut Essen (KWI), Germany
Lanz Rita, Gewerkschaft Unia, Zentralsekretariat, Bern, Switzerland
Leibner Gerardo, History Department, Tel Aviv University, Israel
Lichtenberger Sabine, Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte, Wien, Austria
Manns Ulla, Dept. of Gender Studies, Södertörn University, Stockholm, Sweden
Marjanucz László, Dept. of Modern and Contemporary Hungarian History, Univ. Szeged, Hungary
Mayer David, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien, Austria
Meschkat Klaus, Institut für Soziologie, Leibniz Universität Hannover, Germany
Mittag Jürgen, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum, Germany
Mizuno Hiroko, Graduate School of Language and Culture, Osaka University, Japan
Molden Berthold, Department of History, University of Vienna, Austria
Mucsi Ferenc, Hungarian Academy of Sciences, Institute of History, Budapest, Hungary
Mulley Klaus-Dieter, Institut für Gewerkschafts- und AK-Geschichte, Wien, Austria
Neunsinger Silke, Labour Movement Archives and Library, Stockholm, Sweden
Pellar Brigitte, ITH, Wien, Austria
Plener Ulla, Förderverein für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung
Rabius Ragnhild, Hannover, Germany
Ragusa Andrea, Fondazione di Studi Storici “Filippo Turati”, Florence, Italy
Saito Sho, Graduate School of Language and Culture, Osaka University, Japan
Schlauß David, ITH, Wien, Austria
Schleicher Korbinian, ITH, Wien, Austria
Schupp Oliver, Rosa Luxemburg-Stiftung, Berlin, Germany
Schwitanski Alexander, Archiv der Arbeiterjugendbewegung, Oer-Erkenschwick, Germany
Späth Jens, Istituto Storico Germanico di Roma, Italy
Spreitzer Roland, BGF, Austria
Straka Jaroslav, Vysoká škola Sládkovicovo, Slovak Republic
Traverso Enzo, University of Picardie, Department of Political Science, Amiens, France
Unfried Berthold, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien & ITH, Austria
van der Linden Marcel, International Institute of Social History, Amsterdam, The Netherlands
van Goethem Geert, Amsab-Institute of Social History, Gent, Belgium
Varela Raquel, Institute of Contemporary History, Universidade Nova de Lisboa, Portugal
Wegscheider Anna, Linz, Austria
Wilhelm Marlies, ITH, Wien, Austria
Woyke Meik, Friedrich Ebert-Stiftung, Archiv für Sozialgeschichte, Bonn, Germany
Zehetmair Sebastian, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin, Germany

 

Bitte beachten Sie:
Die Linzer Konferenzen sind Veranstaltungen der Mitgliedsinstitute der ITH. Die TeilnehmerInnen zahlen nur einen — im internationalen Maßstab geringfügigen — Tagungsbeitrag (€ 130,- mit bzw. € 80,- ohne Unterkunft) für Konferenzmaterialien, Simultanübersetzung und Verpflegung. Die übrigen Ausgaben werden — sofern sie nicht durch staatliche Subventionen, Zuschüsse von Kammern und Gewerkschaften bzw. Spenden abgedeckt werden können — von den Mitgliedsinstituten getragen. Die Delegierung erfolgt daher über die Mitgliedsinstitute der ITH. Voraussetzung für Einzel-Anmeldungen ist die individuelle Mitgliedschaft bei der ITH.